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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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starken Drucke, der an dieser Stelle stattfindet, diese Form ist leicht, ge-
hört mehr dem Gefäß an, bezeichnet aber ebenfalls den Charakter des
lastlos Aufsteigenden; das Kapitell ist noch phantastisch mit voll ausge-
ladenen Pferden und Stieren oder einem seltsamen, vierfach gerollten
Ornamentkörper geschmückt, von dessen Verwandtschaft mit einer griechischen
Form die Rede sein wird; das Gebälk an der Facade der Höhlengräber
nähert sich jedenfalls dem jonischen. Reicher polychromischer und plastischer
Schmuck zierte diese assyrisch-persische Baukunst. -- In Indien treffen wir
nun, umgeben von einem Complexe von Reinigungsteichen, Säulengängen,
Hallen für die Wallfahrer, Priesterwohnungen, kleineren Tempeln u. s. w.,
ebenfalls die Stufenpyramide unter dem Namen Pagode (Bhaguwati, d. h.
heiliges Haus). Hier wird nicht mehr der Fels bearbeitet, sondern aus
Werksteinen frei gefügt. Die Pagode ist Tempel, eines ihrer, nicht großen,
Gemächer enthält das Götterbild. Was auch hier an spätere (gothische)
Formen entwickelter Baukunst keimartig gemahnt, ist der Uebergang vom
Viereck in das Achteck (das aber durch weitere Entkantung als Sechszehn-
Eck erscheint), überhaupt der Drang zu einer Brechung des Massenhaften,
der jedoch in indischer Weise als krause Ueberladung und Verschüttung
der Grundform erscheint: die Uebergänge der Terrassen sind mit gewölb-
förmigen Uebergängen ausgefüllt, dazwischen treten kleine Kuppeln her-
vor; überall Pilaster, Nischen mit geschweiften Bekrönungen, reichen Ge-
simsen, Thier- und Menschengestalten; das Ganze schließt kuppelartig,
aber dieser schließende Körper blüht selbst wieder in eine seltsame fächer-
oder pfauenschweif-artige Form aus. -- In Aegypten dagegen ist es,
wo dieser Hochbau, wie der Höhlenbau, sich wieder auf die Bestim-
mung des Grab-Denkmals beschränkt, denn ein Tempelbau ganz an-
derer Art hat sich ausgebildet, und die Sage, daß die Pyramiden
von gottlosen Königen herrühren, beweist eine starke priesterliche Op-
position gegen diesen militärisch-despotischen Kraftbau (vgl. Semper a.
a. O. S. 86). Die Absätze werden ausgefüllt, mit reich bearbeiteten
Steintafeln überkleidet und es erscheint die viereckige Keilform der
eigentlichen Pyramide. Das Mißverhältniß des Kerns zu der großen,
nun fast ungegliederten, soliden Schaale drängt sich doppelt stark auf.
Sieht man diese einfache Form näher an und erwägt, was schon zu
§. 564, 1. über ihren ästhetischen Charakter gesagt ist, so eröffnet sich
ein eigenthümlicher Blick: sie scheint bestimmt, nicht etwas für sich zu
sein, sondern ein Theil, und zwar ein abschließender, d. h., mit weniger
Veränderung, ein Dach. Dieß gilt dann von diesem Hochbau in allen
seinen Formen in der Art, daß man meint, einen der Absätze der Ter-
rassenbauten in der Form gedeckt und abgeschlossen sehen zu müssen, welche
die Grundlinie des ganzen Terrassen-Baus ist: der Pyramidalform.

ſtarken Drucke, der an dieſer Stelle ſtattfindet, dieſe Form iſt leicht, ge-
hört mehr dem Gefäß an, bezeichnet aber ebenfalls den Charakter des
laſtlos Aufſteigenden; das Kapitell iſt noch phantaſtiſch mit voll ausge-
ladenen Pferden und Stieren oder einem ſeltſamen, vierfach gerollten
Ornamentkörper geſchmückt, von deſſen Verwandtſchaft mit einer griechiſchen
Form die Rede ſein wird; das Gebälk an der Façade der Höhlengräber
nähert ſich jedenfalls dem joniſchen. Reicher polychromiſcher und plaſtiſcher
Schmuck zierte dieſe aſſyriſch-perſiſche Baukunſt. — In Indien treffen wir
nun, umgeben von einem Complexe von Reinigungsteichen, Säulengängen,
Hallen für die Wallfahrer, Prieſterwohnungen, kleineren Tempeln u. ſ. w.,
ebenfalls die Stufenpyramide unter dem Namen Pagode (Bhaguwati, d. h.
heiliges Haus). Hier wird nicht mehr der Fels bearbeitet, ſondern aus
Werkſteinen frei gefügt. Die Pagode iſt Tempel, eines ihrer, nicht großen,
Gemächer enthält das Götterbild. Was auch hier an ſpätere (gothiſche)
Formen entwickelter Baukunſt keimartig gemahnt, iſt der Uebergang vom
Viereck in das Achteck (das aber durch weitere Entkantung als Sechszehn-
Eck erſcheint), überhaupt der Drang zu einer Brechung des Maſſenhaften,
der jedoch in indiſcher Weiſe als krauſe Ueberladung und Verſchüttung
der Grundform erſcheint: die Uebergänge der Terraſſen ſind mit gewölb-
förmigen Uebergängen ausgefüllt, dazwiſchen treten kleine Kuppeln her-
vor; überall Pilaſter, Niſchen mit geſchweiften Bekrönungen, reichen Ge-
ſimſen, Thier- und Menſchengeſtalten; das Ganze ſchließt kuppelartig,
aber dieſer ſchließende Körper blüht ſelbſt wieder in eine ſeltſame fächer-
oder pfauenſchweif-artige Form aus. — In Aegypten dagegen iſt es,
wo dieſer Hochbau, wie der Höhlenbau, ſich wieder auf die Beſtim-
mung des Grab-Denkmals beſchränkt, denn ein Tempelbau ganz an-
derer Art hat ſich ausgebildet, und die Sage, daß die Pyramiden
von gottloſen Königen herrühren, beweist eine ſtarke prieſterliche Op-
poſition gegen dieſen militäriſch-despotiſchen Kraftbau (vgl. Semper a.
a. O. S. 86). Die Abſätze werden ausgefüllt, mit reich bearbeiteten
Steintafeln überkleidet und es erſcheint die viereckige Keilform der
eigentlichen Pyramide. Das Mißverhältniß des Kerns zu der großen,
nun faſt ungegliederten, ſoliden Schaale drängt ſich doppelt ſtark auf.
Sieht man dieſe einfache Form näher an und erwägt, was ſchon zu
§. 564, 1. über ihren äſthetiſchen Charakter geſagt iſt, ſo eröffnet ſich
ein eigenthümlicher Blick: ſie ſcheint beſtimmt, nicht etwas für ſich zu
ſein, ſondern ein Theil, und zwar ein abſchließender, d. h., mit weniger
Veränderung, ein Dach. Dieß gilt dann von dieſem Hochbau in allen
ſeinen Formen in der Art, daß man meint, einen der Abſätze der Ter-
raſſenbauten in der Form gedeckt und abgeſchloſſen ſehen zu müſſen, welche
die Grundlinie des ganzen Terraſſen-Baus iſt: der Pyramidalform.

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[279/0119] ſtarken Drucke, der an dieſer Stelle ſtattfindet, dieſe Form iſt leicht, ge- hört mehr dem Gefäß an, bezeichnet aber ebenfalls den Charakter des laſtlos Aufſteigenden; das Kapitell iſt noch phantaſtiſch mit voll ausge- ladenen Pferden und Stieren oder einem ſeltſamen, vierfach gerollten Ornamentkörper geſchmückt, von deſſen Verwandtſchaft mit einer griechiſchen Form die Rede ſein wird; das Gebälk an der Façade der Höhlengräber nähert ſich jedenfalls dem joniſchen. Reicher polychromiſcher und plaſtiſcher Schmuck zierte dieſe aſſyriſch-perſiſche Baukunſt. — In Indien treffen wir nun, umgeben von einem Complexe von Reinigungsteichen, Säulengängen, Hallen für die Wallfahrer, Prieſterwohnungen, kleineren Tempeln u. ſ. w., ebenfalls die Stufenpyramide unter dem Namen Pagode (Bhaguwati, d. h. heiliges Haus). Hier wird nicht mehr der Fels bearbeitet, ſondern aus Werkſteinen frei gefügt. Die Pagode iſt Tempel, eines ihrer, nicht großen, Gemächer enthält das Götterbild. Was auch hier an ſpätere (gothiſche) Formen entwickelter Baukunſt keimartig gemahnt, iſt der Uebergang vom Viereck in das Achteck (das aber durch weitere Entkantung als Sechszehn- Eck erſcheint), überhaupt der Drang zu einer Brechung des Maſſenhaften, der jedoch in indiſcher Weiſe als krauſe Ueberladung und Verſchüttung der Grundform erſcheint: die Uebergänge der Terraſſen ſind mit gewölb- förmigen Uebergängen ausgefüllt, dazwiſchen treten kleine Kuppeln her- vor; überall Pilaſter, Niſchen mit geſchweiften Bekrönungen, reichen Ge- ſimſen, Thier- und Menſchengeſtalten; das Ganze ſchließt kuppelartig, aber dieſer ſchließende Körper blüht ſelbſt wieder in eine ſeltſame fächer- oder pfauenſchweif-artige Form aus. — In Aegypten dagegen iſt es, wo dieſer Hochbau, wie der Höhlenbau, ſich wieder auf die Beſtim- mung des Grab-Denkmals beſchränkt, denn ein Tempelbau ganz an- derer Art hat ſich ausgebildet, und die Sage, daß die Pyramiden von gottloſen Königen herrühren, beweist eine ſtarke prieſterliche Op- poſition gegen dieſen militäriſch-despotiſchen Kraftbau (vgl. Semper a. a. O. S. 86). Die Abſätze werden ausgefüllt, mit reich bearbeiteten Steintafeln überkleidet und es erſcheint die viereckige Keilform der eigentlichen Pyramide. Das Mißverhältniß des Kerns zu der großen, nun faſt ungegliederten, ſoliden Schaale drängt ſich doppelt ſtark auf. Sieht man dieſe einfache Form näher an und erwägt, was ſchon zu §. 564, 1. über ihren äſthetiſchen Charakter geſagt iſt, ſo eröffnet ſich ein eigenthümlicher Blick: ſie ſcheint beſtimmt, nicht etwas für ſich zu ſein, ſondern ein Theil, und zwar ein abſchließender, d. h., mit weniger Veränderung, ein Dach. Dieß gilt dann von dieſem Hochbau in allen ſeinen Formen in der Art, daß man meint, einen der Abſätze der Ter- raſſenbauten in der Form gedeckt und abgeſchloſſen ſehen zu müſſen, welche die Grundlinie des ganzen Terraſſen-Baus iſt: der Pyramidalform.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/119>, abgerufen am 24.11.2024.