zu thun habe, er mache es nicht wie die Andern, die immer ihre Dichter- person vordrängen, Weniges und selten aber nachahmen, sondern nach kurzem Anruf an die Muse führe er geradezu einen Mann oder eine Frau oder sonst etwas ein und nichts ohne, sondern mit Charakter. Wie es die Franzosen mit ihrem pseudo- aristotelischen Prinzip der Naturnach- ahmung meinten, erfährt man am Besten, wenn man Diderots Versuch über die Malerei mit Göthes Anmerkungen liest (Göthes Werke B. 36); Diderot hält das Prinzip viel strenger (vergl. das von uns zu §. 52, 1. angeführte Beispiel vom Buckligen) ein, als Batteux (Les beaux arts reduits a un meme principe), der ohne Einsicht in den Widerspruch, der daraus entsteht, den Geschmack als wählendes Prinzip neben das der Naturnachahmung stellt. Das Gesetz der Naturnachahmung löst sich im Versuche, es streng festzuhalten, in sich selbst auf, denn eigentlich im eng- sten Sinne die Natur nachzuahmen, ist gar nicht möglich, da selbst dann, wenn der Künstler jedes Atom durch das Vergrößerungsglas betrachten würde, nicht der ganze Umfang der Erscheinung zur Wahrnehmung und Nachahmung gelangen könnte; läßt man aber auch nur durch die kleinste Bresche ein Wählen zu, so ist das Prinzip aufgegeben. Wäre übrigens eine absolute Copie der Natur auch möglich, so ist nicht abzusehen, zu welchem Zweck man sich die Mühe geben soll, zu machen, daß die Dinge doppelt da sind, eigentlich und im Nachdruck; es müßte denn nur die Genug- thuung sein, die in dem Machen an sich, in der Ueberwindung der Schwierigkeiten liegt, welche nöthig ist, um als geschickter Nachdrucker der Schöpfung diesen Schein einer Doublette hervorzubringen, und dieser Reiz der gemeinen Nachahmung ist allerdings sofort aufzunehmen, nur nicht als Seele der Kunst, sondern als einer der Ausgangspuncte der Technik. Das Prinzip der Naturnachahmung ist aber überhaupt historisch, nicht dogmatisch zu behandeln: es war der Ausdruck jener Opposition gegen die falsche Idealität, welche den volleren Schein der Natürlichkeit forderte und nun übersah, daß aus der Gerechtigkeit dieser Forderung nichts weniger folgt, als daß die Kunst eine Copie der Natur sein soll. -- Der §. hebt als Ziel der Nacheiferung die Bestimmtheit der Formen und die Lebendigkeit der Natur hervor: nur der Schein dieser Lebendigkeit ist es natürlich, nach welchem die Kunst streben kann; die empirisch wirkliche Lebendigkeit des Naturschönen ist ja zugleich sein Mangel und Tod (vergl. namentlich zu §. 379 B. II S. 301 unten). Das Streben nach immer vollerem Scheine der Lebendigkeit wird sich aber als das Treibende und Bestimmende in der Reihenfolge der Künste erweisen; ganz verschieden ist der Umfang des Scheins der Bewegtheit des Lebens in den einzelnen Künsten, ebenso in ihren Zweigen und ihrer Geschichte, wie sie durch die historischen Ideale bestimmt ist.
zu thun habe, er mache es nicht wie die Andern, die immer ihre Dichter- perſon vordrängen, Weniges und ſelten aber nachahmen, ſondern nach kurzem Anruf an die Muſe führe er geradezu einen Mann oder eine Frau oder ſonſt etwas ein und nichts ohne, ſondern mit Charakter. Wie es die Franzoſen mit ihrem pſeudo- ariſtoteliſchen Prinzip der Naturnach- ahmung meinten, erfährt man am Beſten, wenn man Diderots Verſuch über die Malerei mit Göthes Anmerkungen liest (Göthes Werke B. 36); Diderot hält das Prinzip viel ſtrenger (vergl. das von uns zu §. 52, 1. angeführte Beiſpiel vom Buckligen) ein, als Batteux (Les beaux arts reduits à un même principe), der ohne Einſicht in den Widerſpruch, der daraus entſteht, den Geſchmack als wählendes Prinzip neben das der Naturnachahmung ſtellt. Das Geſetz der Naturnachahmung löst ſich im Verſuche, es ſtreng feſtzuhalten, in ſich ſelbſt auf, denn eigentlich im eng- ſten Sinne die Natur nachzuahmen, iſt gar nicht möglich, da ſelbſt dann, wenn der Künſtler jedes Atom durch das Vergrößerungsglas betrachten würde, nicht der ganze Umfang der Erſcheinung zur Wahrnehmung und Nachahmung gelangen könnte; läßt man aber auch nur durch die kleinſte Breſche ein Wählen zu, ſo iſt das Prinzip aufgegeben. Wäre übrigens eine abſolute Copie der Natur auch möglich, ſo iſt nicht abzuſehen, zu welchem Zweck man ſich die Mühe geben ſoll, zu machen, daß die Dinge doppelt da ſind, eigentlich und im Nachdruck; es müßte denn nur die Genug- thuung ſein, die in dem Machen an ſich, in der Ueberwindung der Schwierigkeiten liegt, welche nöthig iſt, um als geſchickter Nachdrucker der Schöpfung dieſen Schein einer Doublette hervorzubringen, und dieſer Reiz der gemeinen Nachahmung iſt allerdings ſofort aufzunehmen, nur nicht als Seele der Kunſt, ſondern als einer der Ausgangspuncte der Technik. Das Prinzip der Naturnachahmung iſt aber überhaupt hiſtoriſch, nicht dogmatiſch zu behandeln: es war der Ausdruck jener Oppoſition gegen die falſche Idealität, welche den volleren Schein der Natürlichkeit forderte und nun überſah, daß aus der Gerechtigkeit dieſer Forderung nichts weniger folgt, als daß die Kunſt eine Copie der Natur ſein ſoll. — Der §. hebt als Ziel der Nacheiferung die Beſtimmtheit der Formen und die Lebendigkeit der Natur hervor: nur der Schein dieſer Lebendigkeit iſt es natürlich, nach welchem die Kunſt ſtreben kann; die empiriſch wirkliche Lebendigkeit des Naturſchönen iſt ja zugleich ſein Mangel und Tod (vergl. namentlich zu §. 379 B. II S. 301 unten). Das Streben nach immer vollerem Scheine der Lebendigkeit wird ſich aber als das Treibende und Beſtimmende in der Reihenfolge der Künſte erweiſen; ganz verſchieden iſt der Umfang des Scheins der Bewegtheit des Lebens in den einzelnen Künſten, ebenſo in ihren Zweigen und ihrer Geſchichte, wie ſie durch die hiſtoriſchen Ideale beſtimmt iſt.
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[86/0098]
zu thun habe, er mache es nicht wie die Andern, die immer ihre Dichter-
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kurzem Anruf an die Muſe führe er geradezu einen Mann oder eine
Frau oder ſonſt etwas ein und nichts ohne, ſondern mit Charakter. Wie
es die Franzoſen mit ihrem pſeudo- ariſtoteliſchen Prinzip der Naturnach-
ahmung meinten, erfährt man am Beſten, wenn man Diderots Verſuch
über die Malerei mit Göthes Anmerkungen liest (Göthes Werke B. 36);
Diderot hält das Prinzip viel ſtrenger (vergl. das von uns zu §. 52, 1.
angeführte Beiſpiel vom Buckligen) ein, als Batteux (Les beaux arts
reduits à un même principe), der ohne Einſicht in den Widerſpruch,
der daraus entſteht, den Geſchmack als wählendes Prinzip neben das der
Naturnachahmung ſtellt. Das Geſetz der Naturnachahmung löst ſich im
Verſuche, es ſtreng feſtzuhalten, in ſich ſelbſt auf, denn eigentlich im eng-
ſten Sinne die Natur nachzuahmen, iſt gar nicht möglich, da ſelbſt dann,
wenn der Künſtler jedes Atom durch das Vergrößerungsglas betrachten
würde, nicht der ganze Umfang der Erſcheinung zur Wahrnehmung und
Nachahmung gelangen könnte; läßt man aber auch nur durch die kleinſte
Breſche ein Wählen zu, ſo iſt das Prinzip aufgegeben. Wäre übrigens
eine abſolute Copie der Natur auch möglich, ſo iſt nicht abzuſehen, zu welchem
Zweck man ſich die Mühe geben ſoll, zu machen, daß die Dinge doppelt
da ſind, eigentlich und im Nachdruck; es müßte denn nur die Genug-
thuung ſein, die in dem Machen an ſich, in der Ueberwindung der
Schwierigkeiten liegt, welche nöthig iſt, um als geſchickter Nachdrucker der
Schöpfung dieſen Schein einer Doublette hervorzubringen, und dieſer
Reiz der gemeinen Nachahmung iſt allerdings ſofort aufzunehmen, nur
nicht als Seele der Kunſt, ſondern als einer der Ausgangspuncte der
Technik. Das Prinzip der Naturnachahmung iſt aber überhaupt hiſtoriſch,
nicht dogmatiſch zu behandeln: es war der Ausdruck jener Oppoſition
gegen die falſche Idealität, welche den volleren Schein der Natürlichkeit
forderte und nun überſah, daß aus der Gerechtigkeit dieſer Forderung
nichts weniger folgt, als daß die Kunſt eine Copie der Natur ſein ſoll. —
Der §. hebt als Ziel der Nacheiferung die Beſtimmtheit der Formen und
die Lebendigkeit der Natur hervor: nur der Schein dieſer Lebendigkeit
iſt es natürlich, nach welchem die Kunſt ſtreben kann; die empiriſch wirkliche
Lebendigkeit des Naturſchönen iſt ja zugleich ſein Mangel und Tod (vergl.
namentlich zu §. 379 B. II S. 301 unten). Das Streben nach immer
vollerem Scheine der Lebendigkeit wird ſich aber als das Treibende und
Beſtimmende in der Reihenfolge der Künſte erweiſen; ganz verſchieden iſt
der Umfang des Scheins der Bewegtheit des Lebens in den einzelnen
Künſten, ebenſo in ihren Zweigen und ihrer Geſchichte, wie ſie durch die
hiſtoriſchen Ideale beſtimmt iſt.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/98>, abgerufen am 16.07.2024.
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