Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
daß gegenüber der subjectiven Einseitigkeit der Phantasie die unmittelbar 2. Daß die Streitfrage über Naturnachahmung im Prinzip gelöst
daß gegenüber der ſubjectiven Einſeitigkeit der Phantaſie die unmittelbar 2. Daß die Streitfrage über Naturnachahmung im Prinzip gelöst <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0097" n="85"/> daß gegenüber der ſubjectiven Einſeitigkeit der Phantaſie die unmittelbar<lb/> objective Exiſtenz des Schönen in der Natur das Recht ihrer einſeitigen<lb/> Exiſtenz behaupte, und ebenhieher gehört die Bemerkung zu §. 391<lb/> (B. <hi rendition="#aq">II.</hi> S. 334): „der wache Geiſt behält außer dem innern Bilde zu-<lb/> gleich den Gegenſtand, um jenes mit dieſem zu vergleichen, und ſo iſt<lb/> freilich mit der vollen innern auch eine, das Bild an der Sache meſſende,<lb/> äußere Objectivität vorhanden; wir haben die Natur im Rücken, dürfen<lb/> ſie aber nicht verlieren.“ Eine Art von Rache, die das Naturſchöne an<lb/> der ſiegreichen Phantaſie noch nimmt, in die es einſinken mußte, um in<lb/> ihr aufzuerſtehen, einen nachgeholten Rechtsanſpruch haben wir in §. 488<lb/> ſchon die Nothwendigkeit genannt, daß die Phantaſie objectiv bilde, wie<lb/> die Natur; nur eine Fortſetzung davon iſt es, daß die eigentliche Phan-<lb/> taſie nun noch dieſe Prüfung aushalten muß, ob ſie ſich aus der Will-<lb/> kühr und dem Taumel der bloßen Einbildungskraft wirklich erhoben habe<lb/> zu ihrem Idealbildenden Acte, wozu den Prüfungsſtein der Gegenſtand<lb/> in ſeiner realen Strenge abgibt: er zügelt die Phantaſie, ſie verſtößt ſich<lb/> an ihm den Kopf, ſolange ſie noch ungezogen iſt. Was dieſe Strenge<lb/> heißen will, davon wiſſen die Künſtler zu ſagen: nicht eine Blättergruppe,<lb/> nicht eine Faltenmaſſe iſt aus der Erinnerung allein zu geben, der<lb/> Gegenſtand will in ſeiner ſtrengen Beſtimmtheit noch einmal angeſehen<lb/> und verglichen ſeyn; vollends ein Ganzes, eine Handlung, menſchliche<lb/> Verhältniſſe und Sitten: da wollen Studien jeder Art gemacht ſein.<lb/> Der Widerſpruch, daß nunmehr die Phantaſie an dem, was ſie prinzipiell<lb/> zu ihrem Object herabgeſetzt hat, einen Widerhalt findet, der gegen ſie<lb/> drückt und ihr ſeine Strenge entgegenhält, daß ſie über alles Einzelne<lb/> hinausgehen muß, um aus der Trübung die wahre Form zu entbinden,<lb/> und daß ſie dieſe doch nicht finden kann ohne die Gegenwart und ſcharfe<lb/> Anſchauung dieſes Einzelnen: dieſer Widerſpruch des gegenſeitigen Cor-<lb/> rectivs iſt ein vorhandener und getilgt wird er nur im fertigen Kunſtwerk.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Daß die Streitfrage über Naturnachahmung im Prinzip gelöst<lb/> ſei durch die Lehre von der Phantaſie §. 379 — 399 (die Zuſammen-<lb/> ſtellung des Weſentlichen ſ. §. 398 zu <hi rendition="#sub">2</hi> S. 360 im <hi rendition="#aq">II.</hi> B.) iſt ſchon<lb/> zu §. 488 ausgeſprochen aber ebendaſelbſt bemerkt, daß zu ihrer völligen Ab-<lb/> wicklung noch etwas fehle, und dieß Fehlende iſt jetzt völlig ergänzt. Sie<lb/> weiter verfolgen hieße Veraltetes aufwärmen. Daß die Griechen, und<lb/> namentlich Ariſtoteles, mit dem Ausdruck μίμησις einen ganz unbefangenen<lb/> Sinn verbanden, iſt eine längſt bewieſene Sache. Beſonders ſchlagend<lb/> iſt die Stelle in Ariſtoteles Poetik C. 25, wo er die Nachahmung geradezu<lb/> im Sinne von objectiver Darſtellung verſteht, indem er aufſtellt, der<lb/> Dichter dürfe in ſeinem Namen am wenigſten ſagen, denn nicht in die-<lb/> ſem Sinne ſei er Nachahmer; Homer ſei es, der am beſten wiſſe, was er<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [85/0097]
daß gegenüber der ſubjectiven Einſeitigkeit der Phantaſie die unmittelbar
objective Exiſtenz des Schönen in der Natur das Recht ihrer einſeitigen
Exiſtenz behaupte, und ebenhieher gehört die Bemerkung zu §. 391
(B. II. S. 334): „der wache Geiſt behält außer dem innern Bilde zu-
gleich den Gegenſtand, um jenes mit dieſem zu vergleichen, und ſo iſt
freilich mit der vollen innern auch eine, das Bild an der Sache meſſende,
äußere Objectivität vorhanden; wir haben die Natur im Rücken, dürfen
ſie aber nicht verlieren.“ Eine Art von Rache, die das Naturſchöne an
der ſiegreichen Phantaſie noch nimmt, in die es einſinken mußte, um in
ihr aufzuerſtehen, einen nachgeholten Rechtsanſpruch haben wir in §. 488
ſchon die Nothwendigkeit genannt, daß die Phantaſie objectiv bilde, wie
die Natur; nur eine Fortſetzung davon iſt es, daß die eigentliche Phan-
taſie nun noch dieſe Prüfung aushalten muß, ob ſie ſich aus der Will-
kühr und dem Taumel der bloßen Einbildungskraft wirklich erhoben habe
zu ihrem Idealbildenden Acte, wozu den Prüfungsſtein der Gegenſtand
in ſeiner realen Strenge abgibt: er zügelt die Phantaſie, ſie verſtößt ſich
an ihm den Kopf, ſolange ſie noch ungezogen iſt. Was dieſe Strenge
heißen will, davon wiſſen die Künſtler zu ſagen: nicht eine Blättergruppe,
nicht eine Faltenmaſſe iſt aus der Erinnerung allein zu geben, der
Gegenſtand will in ſeiner ſtrengen Beſtimmtheit noch einmal angeſehen
und verglichen ſeyn; vollends ein Ganzes, eine Handlung, menſchliche
Verhältniſſe und Sitten: da wollen Studien jeder Art gemacht ſein.
Der Widerſpruch, daß nunmehr die Phantaſie an dem, was ſie prinzipiell
zu ihrem Object herabgeſetzt hat, einen Widerhalt findet, der gegen ſie
drückt und ihr ſeine Strenge entgegenhält, daß ſie über alles Einzelne
hinausgehen muß, um aus der Trübung die wahre Form zu entbinden,
und daß ſie dieſe doch nicht finden kann ohne die Gegenwart und ſcharfe
Anſchauung dieſes Einzelnen: dieſer Widerſpruch des gegenſeitigen Cor-
rectivs iſt ein vorhandener und getilgt wird er nur im fertigen Kunſtwerk.
2. Daß die Streitfrage über Naturnachahmung im Prinzip gelöst
ſei durch die Lehre von der Phantaſie §. 379 — 399 (die Zuſammen-
ſtellung des Weſentlichen ſ. §. 398 zu 2 S. 360 im II. B.) iſt ſchon
zu §. 488 ausgeſprochen aber ebendaſelbſt bemerkt, daß zu ihrer völligen Ab-
wicklung noch etwas fehle, und dieß Fehlende iſt jetzt völlig ergänzt. Sie
weiter verfolgen hieße Veraltetes aufwärmen. Daß die Griechen, und
namentlich Ariſtoteles, mit dem Ausdruck μίμησις einen ganz unbefangenen
Sinn verbanden, iſt eine längſt bewieſene Sache. Beſonders ſchlagend
iſt die Stelle in Ariſtoteles Poetik C. 25, wo er die Nachahmung geradezu
im Sinne von objectiver Darſtellung verſteht, indem er aufſtellt, der
Dichter dürfe in ſeinem Namen am wenigſten ſagen, denn nicht in die-
ſem Sinne ſei er Nachahmer; Homer ſei es, der am beſten wiſſe, was er
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