geheftet, dem es gleichsam übergezogen, aufgelegt wird, damit er es weiter gebe, weiter schicke. Stoff hat hier die dritte der zu §. 55 Anm. 2 unterschiedenen Bedeutungen und wir werden, um die Verwechslung mit der ersten und zweiten zu verhüten, gewöhnlich den Ausdruck "Material" vorziehen. Es versteht sich nun, daß das Material nicht absolut roher Stoff sein kann, denn solcher oder reine Materie existirt ja überhaupt nicht, selbst im Naturleben verwendet jedes Wesen zu seiner Erhaltung Stoffe, die vorher schon irgendwie geformt waren. Der Stoff muß aber für den Zweck der darstellenden Phantasie roh sein in dem Sinne, daß die Form, die er vorher hatte, mit der Form, die jene ihm aufdrückt, nichts zu schaffen hat. "Todt" bedeutet entweder unorganische Masse, wie Stein, Metall, Farbstoffe, oder organische, aber abgestorbene, wie Holz, Leinwand, Saiten. Alle Künste bedürfen ein Material. Von der Poesie wird seines Orts gezeigt werden, daß ihr eigentliches Material die Phantasie der Zuhörer ist: ebenfalls relativ todter und roher Stoff in einem dann zu entwickelnden Sinne; die Sprache ist nur das Werkzeug, womit in diesem Material gearbeitet wird. Roh und todt in diesem Sinne muß nun der Stoff, der als Material dient, aus folgenden Gründen seyn. Der Stoff, der eine eigene, noch lebendige Form mitbringt zur künstlerischen Bearbeitung, läßt sich die Selbständigkeit des Lebens, vermöge deren er einmal seinen eigenen, anderweitig entstandenen und befestigten Ausdruck hat, nicht nehmen. Man kann mit wirklichen Bäumen, Bergen, Wassern keine Landschaft malen, denn sie folgen ihren Gesetzen und nicht dem Geiste des Malers. Wird vollends beides verbunden, Schein und Wirklichkeit, wie in Tableau-Uhren, so kommt etwas zu Stande, was nur Kindern nicht widerlich ist. Lebendige Thiere auf dem Theater können ihre eindressirte Rolle ganz ohne störende Improvisation durchführen und doch zeigt jede Bewegung, daß hier eine selbständige Natur vor uns handelt, welche in das Ganze der Darstellung als ein völlig Fremdes hereingeworfen ist, und schon die beständige Furcht, sie möchten aus der Rolle fallen, genügt, die ganze Stimmung jedes Zuschauers, der einen Begriff vom Schönen hat, zu zerreißen. Begeisteter Stoff nun, d. h. menschliche Persönlichkeit vermag allerdings durch den Willen die eigene Gestalt, Bewegung, Stimme bis auf einen gewissen Grad zum reinen Stoff herabzusetzen und ihnen den Ausdruck aufzulegen, den ein darzu- stellendes ästhetisches Ganzes verlangt; aber auch nur bis auf einen gewissen Grad: denn die Erscheinung drückt den Charakter dieser Persönlichkeit in festen Formen, angebornen und angewöhnten Bewegungen aus, welche sich niemals ganz in den beabsichtigten Ausdruck eines Phantasiebilds fügen, das sie momentan darstellen sollen. Die Ueberwindung dieser Fremdheit ist natürlich eine tiefere in bewegter und redender Darstellung,
geheftet, dem es gleichſam übergezogen, aufgelegt wird, damit er es weiter gebe, weiter ſchicke. Stoff hat hier die dritte der zu §. 55 Anm. 2 unterſchiedenen Bedeutungen und wir werden, um die Verwechslung mit der erſten und zweiten zu verhüten, gewöhnlich den Ausdruck „Material“ vorziehen. Es verſteht ſich nun, daß das Material nicht abſolut roher Stoff ſein kann, denn ſolcher oder reine Materie exiſtirt ja überhaupt nicht, ſelbſt im Naturleben verwendet jedes Weſen zu ſeiner Erhaltung Stoffe, die vorher ſchon irgendwie geformt waren. Der Stoff muß aber für den Zweck der darſtellenden Phantaſie roh ſein in dem Sinne, daß die Form, die er vorher hatte, mit der Form, die jene ihm aufdrückt, nichts zu ſchaffen hat. „Todt“ bedeutet entweder unorganiſche Maſſe, wie Stein, Metall, Farbſtoffe, oder organiſche, aber abgeſtorbene, wie Holz, Leinwand, Saiten. Alle Künſte bedürfen ein Material. Von der Poeſie wird ſeines Orts gezeigt werden, daß ihr eigentliches Material die Phantaſie der Zuhörer iſt: ebenfalls relativ todter und roher Stoff in einem dann zu entwickelnden Sinne; die Sprache iſt nur das Werkzeug, womit in dieſem Material gearbeitet wird. Roh und todt in dieſem Sinne muß nun der Stoff, der als Material dient, aus folgenden Gründen ſeyn. Der Stoff, der eine eigene, noch lebendige Form mitbringt zur künſtleriſchen Bearbeitung, läßt ſich die Selbſtändigkeit des Lebens, vermöge deren er einmal ſeinen eigenen, anderweitig entſtandenen und befeſtigten Ausdruck hat, nicht nehmen. Man kann mit wirklichen Bäumen, Bergen, Waſſern keine Landſchaft malen, denn ſie folgen ihren Geſetzen und nicht dem Geiſte des Malers. Wird vollends beides verbunden, Schein und Wirklichkeit, wie in Tableau-Uhren, ſo kommt etwas zu Stande, was nur Kindern nicht widerlich iſt. Lebendige Thiere auf dem Theater können ihre eindreſſirte Rolle ganz ohne ſtörende Improviſation durchführen und doch zeigt jede Bewegung, daß hier eine ſelbſtändige Natur vor uns handelt, welche in das Ganze der Darſtellung als ein völlig Fremdes hereingeworfen iſt, und ſchon die beſtändige Furcht, ſie möchten aus der Rolle fallen, genügt, die ganze Stimmung jedes Zuſchauers, der einen Begriff vom Schönen hat, zu zerreißen. Begeiſteter Stoff nun, d. h. menſchliche Perſönlichkeit vermag allerdings durch den Willen die eigene Geſtalt, Bewegung, Stimme bis auf einen gewiſſen Grad zum reinen Stoff herabzuſetzen und ihnen den Ausdruck aufzulegen, den ein darzu- ſtellendes äſthetiſches Ganzes verlangt; aber auch nur bis auf einen gewiſſen Grad: denn die Erſcheinung drückt den Charakter dieſer Perſönlichkeit in feſten Formen, angebornen und angewöhnten Bewegungen aus, welche ſich niemals ganz in den beabſichtigten Ausdruck eines Phantaſiebilds fügen, das ſie momentan darſtellen ſollen. Die Ueberwindung dieſer Fremdheit iſt natürlich eine tiefere in bewegter und redender Darſtellung,
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unterſchiedenen Bedeutungen und wir werden, um die Verwechslung mit
der erſten und zweiten zu verhüten, gewöhnlich den Ausdruck „Material“
vorziehen. Es verſteht ſich nun, daß das Material nicht abſolut roher
Stoff ſein kann, denn ſolcher oder reine Materie exiſtirt ja überhaupt
nicht, ſelbſt im Naturleben verwendet jedes Weſen zu ſeiner Erhaltung
Stoffe, die vorher ſchon irgendwie geformt waren. Der Stoff muß aber für
den Zweck der darſtellenden Phantaſie roh ſein in dem Sinne, daß die
Form, die er vorher hatte, mit der Form, die jene ihm aufdrückt, nichts
zu ſchaffen hat. „Todt“ bedeutet entweder unorganiſche Maſſe, wie
Stein, Metall, Farbſtoffe, oder organiſche, aber abgeſtorbene, wie Holz,
Leinwand, Saiten. Alle Künſte bedürfen ein Material. Von der Poeſie
wird ſeines Orts gezeigt werden, daß ihr eigentliches Material die
Phantaſie der Zuhörer iſt: ebenfalls relativ todter und roher Stoff in
einem dann zu entwickelnden Sinne; die Sprache iſt nur das Werkzeug,
womit in dieſem Material gearbeitet wird. Roh und todt in dieſem
Sinne muß nun der Stoff, der als Material dient, aus folgenden Gründen
ſeyn. Der Stoff, der eine eigene, noch lebendige Form mitbringt zur
künſtleriſchen Bearbeitung, läßt ſich die Selbſtändigkeit des Lebens, vermöge
deren er einmal ſeinen eigenen, anderweitig entſtandenen und befeſtigten
Ausdruck hat, nicht nehmen. Man kann mit wirklichen Bäumen, Bergen,
Waſſern keine Landſchaft malen, denn ſie folgen ihren Geſetzen und nicht
dem Geiſte des Malers. Wird vollends beides verbunden, Schein und
Wirklichkeit, wie in Tableau-Uhren, ſo kommt etwas zu Stande, was nur
Kindern nicht widerlich iſt. Lebendige Thiere auf dem Theater können
ihre eindreſſirte Rolle ganz ohne ſtörende Improviſation durchführen und
doch zeigt jede Bewegung, daß hier eine ſelbſtändige Natur vor uns
handelt, welche in das Ganze der Darſtellung als ein völlig Fremdes
hereingeworfen iſt, und ſchon die beſtändige Furcht, ſie möchten aus der
Rolle fallen, genügt, die ganze Stimmung jedes Zuſchauers, der einen
Begriff vom Schönen hat, zu zerreißen. Begeiſteter Stoff nun, d. h.
menſchliche Perſönlichkeit vermag allerdings durch den Willen die eigene
Geſtalt, Bewegung, Stimme bis auf einen gewiſſen Grad zum reinen
Stoff herabzuſetzen und ihnen den Ausdruck aufzulegen, den ein darzu-
ſtellendes äſthetiſches Ganzes verlangt; aber auch nur bis auf einen
gewiſſen Grad: denn die Erſcheinung drückt den Charakter dieſer Perſönlichkeit
in feſten Formen, angebornen und angewöhnten Bewegungen aus, welche
ſich niemals ganz in den beabſichtigten Ausdruck eines Phantaſiebilds
fügen, das ſie momentan darſtellen ſollen. Die Ueberwindung dieſer
Fremdheit iſt natürlich eine tiefere in bewegter und redender Darſtellung,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/21>, abgerufen am 16.02.2025.
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