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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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mitten in der wirklichen Anschauung, greiflich nahe wird er ihm ferne,
es schiebt sich sichtbar unsichtbar zwischen ihn und den Anschauenden ein
geistiges Bild: dieß ist das Bild, das der schaffende Genius in der Seele
trug, an ein Material heftete, und das sich nun im Anschauen auflebend,
aufthauend von diesem Material ablöst. Trefflich hat dieß Ans.
Feuerbach dargestellt in s. vatic. Apollo S. 294 ff. Er erinnert an
jenen Herkules Epitrapezius des Lysippus, der, einen Fuß groß, nach
dem Zeugniß der Alten im Anblick zum riesigen Halbgott emporquoll:
"in dämmernde Nebelferne war das rein Sinnliche des Bildes entrückt
und wurde von da als ein großes Phantasiegebilde reflectirt, das nun
auch die sachliche Form in einem ganz andern, doch ihrem wahren Lichte
erscheinen ließ, -- -- es war ein Hier und eine Ferne, in einem und
demselben Momente ein stetes Daseyn und Entweichen." So nennt er
den ruhigen Jupiterkopf des Phidias eine geschlossene Knospe, "bis in
der Dauer des Beschauens, in der steigenden Wärme der Einbildungs-
kraft die Hülle durchbrochen ward und nun eine ganze Welt, in welcher
selbst die Thaten und Schicksale des Gottes ihre Stelle finden, dem
staunenden Blicke aufgeht." Die vielen Epigramme auf griechische Kunst-
werke rühmen fast durchgängig den täuschenden Schein der Lebendigkeit,
sprechen aber ebendamit aus, wie der Künstler dem Zuschauer durch das
Vehikel des bearbeiteten Stoffs sein inneres Bild in die Seele schiebt.

2. Im Begriffe des Subjectiv-Objectiven ist nun das Wesen der
Kunst ausgesprochen, wie sie vom Naturschönen die Objectivität ohne
jene Mängel, die insgesammt daraus fließen, daß es nicht als solches
von einem Willen gesetzt ist, von der Phantasie die Subjectivität auf-
nimmt ohne den Mangel der nach außen verschlossenen Innerlichkeit, und
wie sie diese zwei Bestimmungen, die sich im zweiten Theil des Systems
getrennt gegenüberstanden, in Ein Ganzes vereinigt. Entwickelt ist jedoch
hiemit der Begriff der Kunst noch nicht, und weil wir die Thätigkeit
noch nicht kennen, die jenes Ganze schafft, auch der Name noch nicht
aufgestellt.

§. 490.

Zum Träger ihres Bildes bedarf die Phantasie eines Materials, welches,
obwohl nicht an sich, doch in diesem Verhältniß roher und todter Stoff ist, denn
nur ein solcher läßt passiv die reine Form an sich darstellen.

Jenes Object (§. 489) kann nur entstehen dadurch, daß das
Subject, welches das innere Bild erzeugt hat und es mitzutheilen sich
gedrungen fühlt, zu einem sinnlichen Stoffe greift, an den jenes Bild

mitten in der wirklichen Anſchauung, greiflich nahe wird er ihm ferne,
es ſchiebt ſich ſichtbar unſichtbar zwiſchen ihn und den Anſchauenden ein
geiſtiges Bild: dieß iſt das Bild, das der ſchaffende Genius in der Seele
trug, an ein Material heftete, und das ſich nun im Anſchauen auflebend,
aufthauend von dieſem Material ablöst. Trefflich hat dieß Anſ.
Feuerbach dargeſtellt in ſ. vatic. Apollo S. 294 ff. Er erinnert an
jenen Herkules Epitrapezius des Lyſippus, der, einen Fuß groß, nach
dem Zeugniß der Alten im Anblick zum rieſigen Halbgott emporquoll:
„in dämmernde Nebelferne war das rein Sinnliche des Bildes entrückt
und wurde von da als ein großes Phantaſiegebilde reflectirt, das nun
auch die ſachliche Form in einem ganz andern, doch ihrem wahren Lichte
erſcheinen ließ, — — es war ein Hier und eine Ferne, in einem und
demſelben Momente ein ſtetes Daſeyn und Entweichen.“ So nennt er
den ruhigen Jupiterkopf des Phidias eine geſchloſſene Knoſpe, „bis in
der Dauer des Beſchauens, in der ſteigenden Wärme der Einbildungs-
kraft die Hülle durchbrochen ward und nun eine ganze Welt, in welcher
ſelbſt die Thaten und Schickſale des Gottes ihre Stelle finden, dem
ſtaunenden Blicke aufgeht.“ Die vielen Epigramme auf griechiſche Kunſt-
werke rühmen faſt durchgängig den täuſchenden Schein der Lebendigkeit,
ſprechen aber ebendamit aus, wie der Künſtler dem Zuſchauer durch das
Vehikel des bearbeiteten Stoffs ſein inneres Bild in die Seele ſchiebt.

2. Im Begriffe des Subjectiv-Objectiven iſt nun das Weſen der
Kunſt ausgeſprochen, wie ſie vom Naturſchönen die Objectivität ohne
jene Mängel, die insgeſammt daraus fließen, daß es nicht als ſolches
von einem Willen geſetzt iſt, von der Phantaſie die Subjectivität auf-
nimmt ohne den Mangel der nach außen verſchloſſenen Innerlichkeit, und
wie ſie dieſe zwei Beſtimmungen, die ſich im zweiten Theil des Syſtems
getrennt gegenüberſtanden, in Ein Ganzes vereinigt. Entwickelt iſt jedoch
hiemit der Begriff der Kunſt noch nicht, und weil wir die Thätigkeit
noch nicht kennen, die jenes Ganze ſchafft, auch der Name noch nicht
aufgeſtellt.

§. 490.

Zum Träger ihres Bildes bedarf die Phantaſie eines Materials, welches,
obwohl nicht an ſich, doch in dieſem Verhältniß roher und todter Stoff iſt, denn
nur ein ſolcher läßt paſſiv die reine Form an ſich darſtellen.

Jenes Object (§. 489) kann nur entſtehen dadurch, daß das
Subject, welches das innere Bild erzeugt hat und es mitzutheilen ſich
gedrungen fühlt, zu einem ſinnlichen Stoffe greift, an den jenes Bild

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/20>, abgerufen am 28.03.2024.