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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Vollständigkeit gebracht werden kann, in einem Andern wirklich dazu
gelangt ist." -- Wir haben dieß Verhältniß in unserem Zusammenhang
zunächst von der Seite des Gebenden auffassen müßen; beide Seiten sind
aber Eines, der Gebende bedarf der Empfangenden, weil sie seiner
bedürfen. Daher sind Naturen, die es zum innern Bilden, aber von da
nicht zum Darstellen bringen, tief unglücklich; die innere Nothwendigkeit
spricht sich im Subjecte als Drang, das Stocken als Schmerz aus. Es
gibt Hamlete in der Kunst wie in der Politik.

§. 488.

Hier ergiebt sich, daß jene Schuld (§. 487) zugleich eine Schuld gegen
das Naturschöne ist. Dieses hat den Vorzug vor dem nur inneren Bilde der
Phantasie, daß es als Object in der Außenwelt für Alle da ist. Die Phantasie
hat es als Object aufgehoben; will sie nun ihr Bild in ein anschauendes
Subject übertragen, so muß sie die in blos subjectives Leben verwandelte
Objectivität wieder entlassen und so in Einem Acte die Schuld der Phantasie
an die Natur und der besondern Phantasie an die allgemeine tilgen.

Mit dem Inhalte dieses §. wendet sich das System noch einmal zum
Naturschönen zurück und nicht zum letztenmale. Die Streitfrage über die
Naturnachahmung ist durch die Lehre von der Phantasie von dem Puncte
an, wo wir das Naturschöne auflösten (§. 379 ff.), bis zur Lehre vom
Ideal (§. 398. 399.) keineswegs vollkommen erledigt. Die Phantasie
hat das Object, das ein schönes schien, in Wahrheit aber nur durch
relativ größere Vollkommenheit den Zuschauer erregte, ihr das Urbild des
Vollkommenen aus seinem Geiste unterzulegen, in sich "zurückgeschlungen;"
der Schein der objectiven Existenz des Schönen ist verzehrt. Nun zeigt
sich, daß "die zerstörte Welt herrlicher wieder aufzubauen ist." Es ist
dem Naturschönen ein Unrecht geschehen; es ist eine Art von Rache
desselben an der Phantasie, daß diese nun zu fühlen bekommt, wie sie mit
ihrem Bilde allein steht, während der Schein des Naturschönen am offenen
Tage hell und heiter für Alle sich ausbreitete. Die Phantasie muß
zurückgreifen und das am Naturschönen nachahmen, wodurch es nun
wirklich im Vortheil ist, die Objectivität; denn anders kann sie ihr
inneres Bild nicht übertragen in das Innere der Subjecte, als dadurch,
daß sie es, abgelöst vom Innern, ebenso hinausstellt in die Außenwelt,
wie das Naturschöne in dieser als Object dem Subjecte entgegenkommt.
Sie kann ihre Schuld an die allgemeine Phantasie nur tilgen, indem
sie zugleich diese Schuld gegen die Natur tilgt. In diesem Sinn jeden-
falls ist die Kunst Naturnachahmung. Wir werden aber noch weiterhin

Vollſtändigkeit gebracht werden kann, in einem Andern wirklich dazu
gelangt iſt.“ — Wir haben dieß Verhältniß in unſerem Zuſammenhang
zunächſt von der Seite des Gebenden auffaſſen müßen; beide Seiten ſind
aber Eines, der Gebende bedarf der Empfangenden, weil ſie ſeiner
bedürfen. Daher ſind Naturen, die es zum innern Bilden, aber von da
nicht zum Darſtellen bringen, tief unglücklich; die innere Nothwendigkeit
ſpricht ſich im Subjecte als Drang, das Stocken als Schmerz aus. Es
gibt Hamlete in der Kunſt wie in der Politik.

§. 488.

Hier ergiebt ſich, daß jene Schuld (§. 487) zugleich eine Schuld gegen
das Naturſchöne iſt. Dieſes hat den Vorzug vor dem nur inneren Bilde der
Phantaſie, daß es als Object in der Außenwelt für Alle da iſt. Die Phantaſie
hat es als Object aufgehoben; will ſie nun ihr Bild in ein anſchauendes
Subject übertragen, ſo muß ſie die in blos ſubjectives Leben verwandelte
Objectivität wieder entlaſſen und ſo in Einem Acte die Schuld der Phantaſie
an die Natur und der beſondern Phantaſie an die allgemeine tilgen.

Mit dem Inhalte dieſes §. wendet ſich das Syſtem noch einmal zum
Naturſchönen zurück und nicht zum letztenmale. Die Streitfrage über die
Naturnachahmung iſt durch die Lehre von der Phantaſie von dem Puncte
an, wo wir das Naturſchöne auflösten (§. 379 ff.), bis zur Lehre vom
Ideal (§. 398. 399.) keineswegs vollkommen erledigt. Die Phantaſie
hat das Object, das ein ſchönes ſchien, in Wahrheit aber nur durch
relativ größere Vollkommenheit den Zuſchauer erregte, ihr das Urbild des
Vollkommenen aus ſeinem Geiſte unterzulegen, in ſich „zurückgeſchlungen;“
der Schein der objectiven Exiſtenz des Schönen iſt verzehrt. Nun zeigt
ſich, daß „die zerſtörte Welt herrlicher wieder aufzubauen iſt.“ Es iſt
dem Naturſchönen ein Unrecht geſchehen; es iſt eine Art von Rache
deſſelben an der Phantaſie, daß dieſe nun zu fühlen bekommt, wie ſie mit
ihrem Bilde allein ſteht, während der Schein des Naturſchönen am offenen
Tage hell und heiter für Alle ſich ausbreitete. Die Phantaſie muß
zurückgreifen und das am Naturſchönen nachahmen, wodurch es nun
wirklich im Vortheil iſt, die Objectivität; denn anders kann ſie ihr
inneres Bild nicht übertragen in das Innere der Subjecte, als dadurch,
daß ſie es, abgelöst vom Innern, ebenſo hinausſtellt in die Außenwelt,
wie das Naturſchöne in dieſer als Object dem Subjecte entgegenkommt.
Sie kann ihre Schuld an die allgemeine Phantaſie nur tilgen, indem
ſie zugleich dieſe Schuld gegen die Natur tilgt. In dieſem Sinn jeden-
falls iſt die Kunſt Naturnachahmung. Wir werden aber noch weiterhin

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[6/0018] Vollſtändigkeit gebracht werden kann, in einem Andern wirklich dazu gelangt iſt.“ — Wir haben dieß Verhältniß in unſerem Zuſammenhang zunächſt von der Seite des Gebenden auffaſſen müßen; beide Seiten ſind aber Eines, der Gebende bedarf der Empfangenden, weil ſie ſeiner bedürfen. Daher ſind Naturen, die es zum innern Bilden, aber von da nicht zum Darſtellen bringen, tief unglücklich; die innere Nothwendigkeit ſpricht ſich im Subjecte als Drang, das Stocken als Schmerz aus. Es gibt Hamlete in der Kunſt wie in der Politik. §. 488. Hier ergiebt ſich, daß jene Schuld (§. 487) zugleich eine Schuld gegen das Naturſchöne iſt. Dieſes hat den Vorzug vor dem nur inneren Bilde der Phantaſie, daß es als Object in der Außenwelt für Alle da iſt. Die Phantaſie hat es als Object aufgehoben; will ſie nun ihr Bild in ein anſchauendes Subject übertragen, ſo muß ſie die in blos ſubjectives Leben verwandelte Objectivität wieder entlaſſen und ſo in Einem Acte die Schuld der Phantaſie an die Natur und der beſondern Phantaſie an die allgemeine tilgen. Mit dem Inhalte dieſes §. wendet ſich das Syſtem noch einmal zum Naturſchönen zurück und nicht zum letztenmale. Die Streitfrage über die Naturnachahmung iſt durch die Lehre von der Phantaſie von dem Puncte an, wo wir das Naturſchöne auflösten (§. 379 ff.), bis zur Lehre vom Ideal (§. 398. 399.) keineswegs vollkommen erledigt. Die Phantaſie hat das Object, das ein ſchönes ſchien, in Wahrheit aber nur durch relativ größere Vollkommenheit den Zuſchauer erregte, ihr das Urbild des Vollkommenen aus ſeinem Geiſte unterzulegen, in ſich „zurückgeſchlungen;“ der Schein der objectiven Exiſtenz des Schönen iſt verzehrt. Nun zeigt ſich, daß „die zerſtörte Welt herrlicher wieder aufzubauen iſt.“ Es iſt dem Naturſchönen ein Unrecht geſchehen; es iſt eine Art von Rache deſſelben an der Phantaſie, daß dieſe nun zu fühlen bekommt, wie ſie mit ihrem Bilde allein ſteht, während der Schein des Naturſchönen am offenen Tage hell und heiter für Alle ſich ausbreitete. Die Phantaſie muß zurückgreifen und das am Naturſchönen nachahmen, wodurch es nun wirklich im Vortheil iſt, die Objectivität; denn anders kann ſie ihr inneres Bild nicht übertragen in das Innere der Subjecte, als dadurch, daß ſie es, abgelöst vom Innern, ebenſo hinausſtellt in die Außenwelt, wie das Naturſchöne in dieſer als Object dem Subjecte entgegenkommt. Sie kann ihre Schuld an die allgemeine Phantaſie nur tilgen, indem ſie zugleich dieſe Schuld gegen die Natur tilgt. In dieſem Sinn jeden- falls iſt die Kunſt Naturnachahmung. Wir werden aber noch weiterhin

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/18>, abgerufen am 21.11.2024.