Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
das Schöne schauen; da es aber in der Natur blos scheinbar sich findet
das Schöne ſchauen; da es aber in der Natur blos ſcheinbar ſich findet <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0017" n="5"/> das Schöne ſchauen; da es aber in der Natur blos ſcheinbar ſich findet<lb/> und die Fähigkeit der geiſtigen Schöpfung der reinen Form hier fehlt,<lb/> ſo würde das Volk niemals das wahrhaft Schöne ſchauen, wenn ſeine<lb/> Genien ihm nicht zurückzahlten, was ſie aus ſeinem allgemeinen Lebens-<lb/> ſchooße und der Wurzel ſeiner Kräfte in ſich geſogen haben. Das Volk<lb/> beneidet ſeine Künſtler nicht, weil es ſie zu ſich zählt, ſie ſind ſeine eigene<lb/> Seele. Der Genius aber iſt auch nichts ohne ſein Volk; der Reiz, der<lb/> Drang, zu ſchaffen, das innerlich Geſchaute hinauszuſtellen an das Licht,<lb/> iſt nur das Gefühl, aus Einem Stamm zu ſein mit denen, welche auf<lb/> dieſe Mittheilung harren; er weiß, daß Aller Augen auf ihn warten, und<lb/> ſieht dieſe Augen innerlich warten zugleich während er ſein inneres Bild<lb/> erzeugt. Alle Freude der Phantaſie an ihrem Thun iſt eine Freude in<lb/> der Vorſtellung Mitanſchauender; dieſe Vorſtellung iſt ein Theil ihres<lb/> Schaffens ſelbſt, es iſt ein inneres Bühnenſpiel mit Parterre und<lb/> Galerieen, kein Drama vor leeren Bänken. Im Phantaſiebegabten iſt<lb/> ſein Volk mitgeſetzt, wie er in ihm, er iſt Legion. Daher iſt auch kein<lb/> äſthetiſcher Genius ohne Eitelkeit und dieß nicht ſein Schlechteſtes;<lb/> gewohnt, innerlich zu dramatiſiren vor vollem Hauſe, wird er freilich<lb/> dieſen Sinn nicht ausziehen, wenn er in’s gemeine Leben tritt; wem<lb/> ſeine eigene Erſcheinung gleichgiltig iſt, wer nicht ein die wirklichen<lb/> Zuſchauer anticipirendes Selbſtanſchauen ſeiner Perſönlichkeit mit ſich<lb/> trägt, iſt für die Kunſt verloren. Es iſt unmöglich, dieſe Behauptung zu<lb/> verwechſeln mit einer Beſchönigung der Eitelkeit des leeren Individuums,<lb/> deſſen ganzes Geſchäft iſt, ſich eigentlich oder uneigentlich vor dem Spiegel<lb/> zu ſehen. Im Genius iſt dieſe Beziehung der Ernſt ſeiner eigentlichen<lb/> Lebensaufgabe, der nur unſchädlich in ſein Privatleben übergeht. Dieſer<lb/> Ernſt iſt die Schuld an ſein Volk. <hi rendition="#g">Schleiermacher</hi> hat dieſe Beziehung<lb/> als eine weſentliche hervorgehoben (Vorleſ. über die Aeſth. herausgegeben<lb/> von <hi rendition="#g">Lommatzſch</hi> S. 108 ff.): „Die äſthetiſche Thätigkeit iſt eine allge-<lb/> mein menſchliche, kann ſich aber in der Maſſe nur als Minimum im<lb/> Traum und unklaren Vorſtellungen entwickeln. In dieſem gebundenen<lb/> Zuſtande ſpricht ſich aber die allgemeine Anlage im Wünſchen und Sehnen<lb/> aus, daß dieſe Thätigkeit frei werde. Der Geiſt hat das zweifache<lb/> Bewußtſein, daß er in dieſer Einzelheit ein Anderer iſt, als der Andere,<lb/> und daß er Eins mit dem Andern, identiſch mit ihm iſt (Gattungs-<lb/> bewußtſein). Wo nun in irgend einer Richtung der Eine blos zum<lb/> Verlangen kommt von dem, was er ſo nicht verwirklichen kann, und der<lb/> Andere die Thätigkeit ſelbſt leiſtet, da eignet jener ſich dieſe an und findet<lb/> darin die Befriedigung ſeines Verlangens. Dieſe Befriedigung iſt nichts<lb/> Anderes, als die Erhebung des Gattungsbewußtſeins über das Einzelne;<lb/> es erregt ſein Wohlgefallen, daß das, was in ihm iſt und nicht zur<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [5/0017]
das Schöne ſchauen; da es aber in der Natur blos ſcheinbar ſich findet
und die Fähigkeit der geiſtigen Schöpfung der reinen Form hier fehlt,
ſo würde das Volk niemals das wahrhaft Schöne ſchauen, wenn ſeine
Genien ihm nicht zurückzahlten, was ſie aus ſeinem allgemeinen Lebens-
ſchooße und der Wurzel ſeiner Kräfte in ſich geſogen haben. Das Volk
beneidet ſeine Künſtler nicht, weil es ſie zu ſich zählt, ſie ſind ſeine eigene
Seele. Der Genius aber iſt auch nichts ohne ſein Volk; der Reiz, der
Drang, zu ſchaffen, das innerlich Geſchaute hinauszuſtellen an das Licht,
iſt nur das Gefühl, aus Einem Stamm zu ſein mit denen, welche auf
dieſe Mittheilung harren; er weiß, daß Aller Augen auf ihn warten, und
ſieht dieſe Augen innerlich warten zugleich während er ſein inneres Bild
erzeugt. Alle Freude der Phantaſie an ihrem Thun iſt eine Freude in
der Vorſtellung Mitanſchauender; dieſe Vorſtellung iſt ein Theil ihres
Schaffens ſelbſt, es iſt ein inneres Bühnenſpiel mit Parterre und
Galerieen, kein Drama vor leeren Bänken. Im Phantaſiebegabten iſt
ſein Volk mitgeſetzt, wie er in ihm, er iſt Legion. Daher iſt auch kein
äſthetiſcher Genius ohne Eitelkeit und dieß nicht ſein Schlechteſtes;
gewohnt, innerlich zu dramatiſiren vor vollem Hauſe, wird er freilich
dieſen Sinn nicht ausziehen, wenn er in’s gemeine Leben tritt; wem
ſeine eigene Erſcheinung gleichgiltig iſt, wer nicht ein die wirklichen
Zuſchauer anticipirendes Selbſtanſchauen ſeiner Perſönlichkeit mit ſich
trägt, iſt für die Kunſt verloren. Es iſt unmöglich, dieſe Behauptung zu
verwechſeln mit einer Beſchönigung der Eitelkeit des leeren Individuums,
deſſen ganzes Geſchäft iſt, ſich eigentlich oder uneigentlich vor dem Spiegel
zu ſehen. Im Genius iſt dieſe Beziehung der Ernſt ſeiner eigentlichen
Lebensaufgabe, der nur unſchädlich in ſein Privatleben übergeht. Dieſer
Ernſt iſt die Schuld an ſein Volk. Schleiermacher hat dieſe Beziehung
als eine weſentliche hervorgehoben (Vorleſ. über die Aeſth. herausgegeben
von Lommatzſch S. 108 ff.): „Die äſthetiſche Thätigkeit iſt eine allge-
mein menſchliche, kann ſich aber in der Maſſe nur als Minimum im
Traum und unklaren Vorſtellungen entwickeln. In dieſem gebundenen
Zuſtande ſpricht ſich aber die allgemeine Anlage im Wünſchen und Sehnen
aus, daß dieſe Thätigkeit frei werde. Der Geiſt hat das zweifache
Bewußtſein, daß er in dieſer Einzelheit ein Anderer iſt, als der Andere,
und daß er Eins mit dem Andern, identiſch mit ihm iſt (Gattungs-
bewußtſein). Wo nun in irgend einer Richtung der Eine blos zum
Verlangen kommt von dem, was er ſo nicht verwirklichen kann, und der
Andere die Thätigkeit ſelbſt leiſtet, da eignet jener ſich dieſe an und findet
darin die Befriedigung ſeines Verlangens. Dieſe Befriedigung iſt nichts
Anderes, als die Erhebung des Gattungsbewußtſeins über das Einzelne;
es erregt ſein Wohlgefallen, daß das, was in ihm iſt und nicht zur
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