Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
dem stehenden Lächeln der Gesichter sich ausspricht, durchaus der Charakter
dem ſtehenden Lächeln der Geſichter ſich ausſpricht, durchaus der Charakter <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0148" n="136"/> dem ſtehenden Lächeln der Geſichter ſich ausſpricht, durchaus der Charakter<lb/> der Kraft in überſtarken, gewaltſam bewegten Formen hervor; ein harter<lb/> und eckiger Umriß, der in dieſem ganzen Style herrſcht, iſt der augen-<lb/> fällige Ausdruck einer Verſchmähung der Grazie. — Es folgt der ſo-<lb/> genannte hohe Styl, vor Allen durch Phidias vertreten. Es iſt der Styl<lb/> des Ideals in näherer hiſtoriſcher Beſtimmtheit. Das ſubjective Kunſtleben<lb/> hat ſich mit dem objectiven Momente zum Gleichgewichte durchdrungen:<lb/> der Künſtler gießt dem Gegenſtande das ganze warme Leben der eigenen,<lb/> aber von dem weiten und mächtigen Gehalte der Idee erfüllten Bruſt<lb/> ein, verleiht ihrer Geſtalt die ganze Wärme und freie Zufälligkeit der<lb/> Natur, ohne je die zarte Linie zu überſchreiten, die zur gemeinen Natur<lb/> führt, gibt durch vollendete Herrſchaft über das Material, die ſich namentlich<lb/> in dem ſchwungvollen Fluß der Umriſſe ausſpricht, dem innern Bilde die<lb/> reine Erſcheinung, und dieſe zeigt mild und freundlich und doch bedürfniß-<lb/> los ſelig und erhaben in ſich dem Zuſchauer, daß er ſeine ganze edlere<lb/> Menſchheit in ihr wiederfindet, in ihr bei ſich iſt. Winkelmann hat dieſen<lb/> Styl als den der <hi rendition="#g">erhabenen Grazie</hi> bezeichnet und leitet ſeine Unter-<lb/> ſcheidung einer doppelten Grazie mit den Worten ein: „wenn der Grundſatz<lb/> des hohen Styls geweſen iſt, das Geſicht und den Stand der Götter und<lb/> Helden rein von Empfindlichkeit und entfernt von inneren Empörungen,<lb/> in einem Gleichgewichte des Gefühls und mit einer friedlichen immer<lb/> gleichen Seele vorzuſtellen, ſo war eine <hi rendition="#g">gewiſſe</hi> Grazie nicht geſucht,<lb/> auch nicht anzubringen“, und nun nennt er zuerſt jene erhabene Grazie,<lb/> die „von höherer Geburt wie die himmliſche Venus, von der Harmonie<lb/> gebildet, beſtändig und unveränderlich iſt, wie die ewigen Geſetze von dieſer;<lb/> eine Geſellinn der Götter iſt ſie ſich ſelbſt genugſam, bietet ſich nicht an,<lb/> ſondern will geſucht werden; mit den Weiſen allein unterhält ſie ſich und<lb/> dem Pöbel erſcheint ſie ſtörriſch und unfreundlich; ſie verſchließet in ſich die<lb/> Bewegungen der Seele und nähert ſich der ſeeligen Stille der göttlichen<lb/> Natur.“ — Die dritte Entwicklungsform des Styls nun trägt den Charakter<lb/> einer volleren Ausbildung des Subjectiven, zunächſt in berechtigter Weiſe,<lb/> dann ſichtbar an der Schwelle anlangend, jenſeits welcher die Subjectivität<lb/> auf Koſten des objectiven Ernſtes ſich geltend macht, endlich ſie überſchreitend.<lb/> Der Künſtler, in eine aufgeregtere, ſubjectiver gebildete Welt geſtellt, theilt<lb/> dem Gegenſtande ein reicheres, vielſeitiger entfaltetes inneres Leben mit,<lb/> er greift in der ſinnlichen Darſtellung tiefer in die Fülle lebendiger Reize,<lb/> welche das Naturſchöne darbietet, das Material wird noch ungleich runder,<lb/> weicher, fließender, als zuvor, behandelt und dadurch die höchſte Virtuoſität<lb/> der Technik an den Tag gelegt, das Kunſtwerk wendet ſich vertrauter,<lb/> holder, entgegenkommender zu dem Zuſchauer. Dieſer ganze Schritt hält<lb/> ſich vorerſt in den Grenzen ächter Idealität. Jene zweite Grazie, welche<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [136/0148]
dem ſtehenden Lächeln der Geſichter ſich ausſpricht, durchaus der Charakter
der Kraft in überſtarken, gewaltſam bewegten Formen hervor; ein harter
und eckiger Umriß, der in dieſem ganzen Style herrſcht, iſt der augen-
fällige Ausdruck einer Verſchmähung der Grazie. — Es folgt der ſo-
genannte hohe Styl, vor Allen durch Phidias vertreten. Es iſt der Styl
des Ideals in näherer hiſtoriſcher Beſtimmtheit. Das ſubjective Kunſtleben
hat ſich mit dem objectiven Momente zum Gleichgewichte durchdrungen:
der Künſtler gießt dem Gegenſtande das ganze warme Leben der eigenen,
aber von dem weiten und mächtigen Gehalte der Idee erfüllten Bruſt
ein, verleiht ihrer Geſtalt die ganze Wärme und freie Zufälligkeit der
Natur, ohne je die zarte Linie zu überſchreiten, die zur gemeinen Natur
führt, gibt durch vollendete Herrſchaft über das Material, die ſich namentlich
in dem ſchwungvollen Fluß der Umriſſe ausſpricht, dem innern Bilde die
reine Erſcheinung, und dieſe zeigt mild und freundlich und doch bedürfniß-
los ſelig und erhaben in ſich dem Zuſchauer, daß er ſeine ganze edlere
Menſchheit in ihr wiederfindet, in ihr bei ſich iſt. Winkelmann hat dieſen
Styl als den der erhabenen Grazie bezeichnet und leitet ſeine Unter-
ſcheidung einer doppelten Grazie mit den Worten ein: „wenn der Grundſatz
des hohen Styls geweſen iſt, das Geſicht und den Stand der Götter und
Helden rein von Empfindlichkeit und entfernt von inneren Empörungen,
in einem Gleichgewichte des Gefühls und mit einer friedlichen immer
gleichen Seele vorzuſtellen, ſo war eine gewiſſe Grazie nicht geſucht,
auch nicht anzubringen“, und nun nennt er zuerſt jene erhabene Grazie,
die „von höherer Geburt wie die himmliſche Venus, von der Harmonie
gebildet, beſtändig und unveränderlich iſt, wie die ewigen Geſetze von dieſer;
eine Geſellinn der Götter iſt ſie ſich ſelbſt genugſam, bietet ſich nicht an,
ſondern will geſucht werden; mit den Weiſen allein unterhält ſie ſich und
dem Pöbel erſcheint ſie ſtörriſch und unfreundlich; ſie verſchließet in ſich die
Bewegungen der Seele und nähert ſich der ſeeligen Stille der göttlichen
Natur.“ — Die dritte Entwicklungsform des Styls nun trägt den Charakter
einer volleren Ausbildung des Subjectiven, zunächſt in berechtigter Weiſe,
dann ſichtbar an der Schwelle anlangend, jenſeits welcher die Subjectivität
auf Koſten des objectiven Ernſtes ſich geltend macht, endlich ſie überſchreitend.
Der Künſtler, in eine aufgeregtere, ſubjectiver gebildete Welt geſtellt, theilt
dem Gegenſtande ein reicheres, vielſeitiger entfaltetes inneres Leben mit,
er greift in der ſinnlichen Darſtellung tiefer in die Fülle lebendiger Reize,
welche das Naturſchöne darbietet, das Material wird noch ungleich runder,
weicher, fließender, als zuvor, behandelt und dadurch die höchſte Virtuoſität
der Technik an den Tag gelegt, das Kunſtwerk wendet ſich vertrauter,
holder, entgegenkommender zu dem Zuſchauer. Dieſer ganze Schritt hält
ſich vorerſt in den Grenzen ächter Idealität. Jene zweite Grazie, welche
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