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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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ist jedoch weniger, als dieses; er hat Talent, aber in einem besondern,
beschränkten Sinn. Das Talent schlechthin nämlich ist hervorbringend, in
der Musik Componist. Seine Schöpfung ist freilich nicht die ureigene des
Genie, aber es folgt diesem in die Geheimnisse der Technik nicht in dem
Sinne, wie wir die Technik jetzt verstehen, sondern der innern, bildenden,
bauenden Technik; in der Poesie z. B. macht es nicht blos gute Verse
mit Leichtigkeit, sondern weiß die Anschauungsweise einer Zeit, eines Meisters
in geschickter Composition niederzulegen, zu verbreiten, fortzubilden. Das
Talent dagegen, das sich in der Virtuosität kund gibt, fühlt sich in einen
gegebenen Geist nur hinein, wie er an eine gegebene Technik gebunden
ist, es erfindet nicht, es exequirt nur, aber mit Seele, mit Verständniß
der Seele. In den Künsten, in welchen Erfindung und Ausführung nicht
auseinanderfällt, ist dieß insofern anders, als das virtuose Talent noth-
wendig auch erfinden muß, um seine Bravour in der Technik zeigen zu
können; da wird man aber bemerken, daß die Erfindung nur Schein ist,
daß sie in Reminiscenzen besteht, welche zusammengestellt sind zu dem Zweck,
die glänzende Beherrschung aller Mittel daran entwickeln zu können. --
Die Virtuosität thut nun aber allerdings noch einen weiteren Sprung,
der sie in das Gebiet des kühnsten Schaffens zu tragen scheint. Da
nämlich die Technik keineswegs bloß Handwerksregel ist, sondern aus einem
Ganzen von Darstellungsmitteln besteht, dem der Genius seinen Geist ein-
gehaucht hat, so wird sie zu einem relativ selbstständigen Ganzen, dem ein
Reiz inwohnt, getrennt von dem ursprünglichen Bande es auf eigene Faust
zu versuchen: die Geschicklichkeit, mit anempfindender Seele gepaart, emanzipirt
sich von dem, an was sie sich anempfinden muß, um zur wahren Kunstleistung
färig zu sein, ihre Freiheit von Mühe nimmt sie für positive, inhaltsvolle
Freiheit, und wie sie nun jenes Band sprengt, ist es, als ob ein Dämon in
sie führe, wie in die Beine des Betrunkenen, die dem Willen nicht mehr
gehorchend auf eigene Faust absonderliche Figuren ausführen. So werden
die Finger des musikalischen Virtuosen toll, die gereizten Nerven handeln für
sich und in losgelassenen Capricen, Seltsamkeiten, Ueberraschungen und Sprün-
gen aller Art täuschen sie mit dem Afterbilde des ächten Genius das Ohr
des Hörers, das im Wirbel vergißt, daß Kunststück nicht Kunst, daß innere
Nothwendigkeit und Harmonie der Grundzug der letzteren ist. In den andern
Künsten wird sich der Virtuos durch den Zug seiner technischen Sicherheit
auf ähnliche Weise zu einem Scheinbilde der fragmentarischen Genialität
(die trotz ihren Mängeln doch etwas unendlich Höheres ist, als der losge-
lassene Flug der technischen Bravour[ - 1 Zeichen fehlt] fortreißen lassen: Formen, Stellungen,
Bewegungen, Licht- und Farben-Effecte, Scenen, Bilder vertreten hier die
Töne, er sucht das Schwierige auf, um seine Macht zu ze[i]gen, und das
leicht überwundene Schwierige gibt sich den Schein kühner Gedanken.


iſt jedoch weniger, als dieſes; er hat Talent, aber in einem beſondern,
beſchränkten Sinn. Das Talent ſchlechthin nämlich iſt hervorbringend, in
der Muſik Componiſt. Seine Schöpfung iſt freilich nicht die ureigene des
Genie, aber es folgt dieſem in die Geheimniſſe der Technik nicht in dem
Sinne, wie wir die Technik jetzt verſtehen, ſondern der innern, bildenden,
bauenden Technik; in der Poeſie z. B. macht es nicht blos gute Verſe
mit Leichtigkeit, ſondern weiß die Anſchauungsweiſe einer Zeit, eines Meiſters
in geſchickter Compoſition niederzulegen, zu verbreiten, fortzubilden. Das
Talent dagegen, das ſich in der Virtuoſität kund gibt, fühlt ſich in einen
gegebenen Geiſt nur hinein, wie er an eine gegebene Technik gebunden
iſt, es erfindet nicht, es exequirt nur, aber mit Seele, mit Verſtändniß
der Seele. In den Künſten, in welchen Erfindung und Ausführung nicht
auseinanderfällt, iſt dieß inſofern anders, als das virtuoſe Talent noth-
wendig auch erfinden muß, um ſeine Bravour in der Technik zeigen zu
können; da wird man aber bemerken, daß die Erfindung nur Schein iſt,
daß ſie in Reminiſcenzen beſteht, welche zuſammengeſtellt ſind zu dem Zweck,
die glänzende Beherrſchung aller Mittel daran entwickeln zu können. —
Die Virtuoſität thut nun aber allerdings noch einen weiteren Sprung,
der ſie in das Gebiet des kühnſten Schaffens zu tragen ſcheint. Da
nämlich die Technik keineswegs bloß Handwerksregel iſt, ſondern aus einem
Ganzen von Darſtellungsmitteln beſteht, dem der Genius ſeinen Geiſt ein-
gehaucht hat, ſo wird ſie zu einem relativ ſelbſtſtändigen Ganzen, dem ein
Reiz inwohnt, getrennt von dem urſprünglichen Bande es auf eigene Fauſt
zu verſuchen: die Geſchicklichkeit, mit anempfindender Seele gepaart, emanzipirt
ſich von dem, an was ſie ſich anempfinden muß, um zur wahren Kunſtleiſtung
färig zu ſein, ihre Freiheit von Mühe nimmt ſie für poſitive, inhaltsvolle
Freiheit, und wie ſie nun jenes Band ſprengt, iſt es, als ob ein Dämon in
ſie führe, wie in die Beine des Betrunkenen, die dem Willen nicht mehr
gehorchend auf eigene Fauſt abſonderliche Figuren ausführen. So werden
die Finger des muſikaliſchen Virtuoſen toll, die gereizten Nerven handeln für
ſich und in losgelaſſenen Capricen, Seltſamkeiten, Ueberraſchungen und Sprün-
gen aller Art täuſchen ſie mit dem Afterbilde des ächten Genius das Ohr
des Hörers, das im Wirbel vergißt, daß Kunſtſtück nicht Kunſt, daß innere
Nothwendigkeit und Harmonie der Grundzug der letzteren iſt. In den andern
Künſten wird ſich der Virtuos durch den Zug ſeiner techniſchen Sicherheit
auf ähnliche Weiſe zu einem Scheinbilde der fragmentariſchen Genialität
(die trotz ihren Mängeln doch etwas unendlich Höheres iſt, als der losge-
laſſene Flug der techniſchen Bravour[ – 1 Zeichen fehlt] fortreißen laſſen: Formen, Stellungen,
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[118/0130] iſt jedoch weniger, als dieſes; er hat Talent, aber in einem beſondern, beſchränkten Sinn. Das Talent ſchlechthin nämlich iſt hervorbringend, in der Muſik Componiſt. Seine Schöpfung iſt freilich nicht die ureigene des Genie, aber es folgt dieſem in die Geheimniſſe der Technik nicht in dem Sinne, wie wir die Technik jetzt verſtehen, ſondern der innern, bildenden, bauenden Technik; in der Poeſie z. B. macht es nicht blos gute Verſe mit Leichtigkeit, ſondern weiß die Anſchauungsweiſe einer Zeit, eines Meiſters in geſchickter Compoſition niederzulegen, zu verbreiten, fortzubilden. Das Talent dagegen, das ſich in der Virtuoſität kund gibt, fühlt ſich in einen gegebenen Geiſt nur hinein, wie er an eine gegebene Technik gebunden iſt, es erfindet nicht, es exequirt nur, aber mit Seele, mit Verſtändniß der Seele. In den Künſten, in welchen Erfindung und Ausführung nicht auseinanderfällt, iſt dieß inſofern anders, als das virtuoſe Talent noth- wendig auch erfinden muß, um ſeine Bravour in der Technik zeigen zu können; da wird man aber bemerken, daß die Erfindung nur Schein iſt, daß ſie in Reminiſcenzen beſteht, welche zuſammengeſtellt ſind zu dem Zweck, die glänzende Beherrſchung aller Mittel daran entwickeln zu können. — Die Virtuoſität thut nun aber allerdings noch einen weiteren Sprung, der ſie in das Gebiet des kühnſten Schaffens zu tragen ſcheint. Da nämlich die Technik keineswegs bloß Handwerksregel iſt, ſondern aus einem Ganzen von Darſtellungsmitteln beſteht, dem der Genius ſeinen Geiſt ein- gehaucht hat, ſo wird ſie zu einem relativ ſelbſtſtändigen Ganzen, dem ein Reiz inwohnt, getrennt von dem urſprünglichen Bande es auf eigene Fauſt zu verſuchen: die Geſchicklichkeit, mit anempfindender Seele gepaart, emanzipirt ſich von dem, an was ſie ſich anempfinden muß, um zur wahren Kunſtleiſtung färig zu ſein, ihre Freiheit von Mühe nimmt ſie für poſitive, inhaltsvolle Freiheit, und wie ſie nun jenes Band ſprengt, iſt es, als ob ein Dämon in ſie führe, wie in die Beine des Betrunkenen, die dem Willen nicht mehr gehorchend auf eigene Fauſt abſonderliche Figuren ausführen. So werden die Finger des muſikaliſchen Virtuoſen toll, die gereizten Nerven handeln für ſich und in losgelaſſenen Capricen, Seltſamkeiten, Ueberraſchungen und Sprün- gen aller Art täuſchen ſie mit dem Afterbilde des ächten Genius das Ohr des Hörers, das im Wirbel vergißt, daß Kunſtſtück nicht Kunſt, daß innere Nothwendigkeit und Harmonie der Grundzug der letzteren iſt. In den andern Künſten wird ſich der Virtuos durch den Zug ſeiner techniſchen Sicherheit auf ähnliche Weiſe zu einem Scheinbilde der fragmentariſchen Genialität (die trotz ihren Mängeln doch etwas unendlich Höheres iſt, als der losge- laſſene Flug der techniſchen Bravour_ fortreißen laſſen: Formen, Stellungen, Bewegungen, Licht- und Farben-Effecte, Scenen, Bilder vertreten hier die Töne, er ſucht das Schwierige auf, um ſeine Macht zu zeigen, und das leicht überwundene Schwierige gibt ſich den Schein kühner Gedanken.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/130>, abgerufen am 24.11.2024.