Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.1. Nur in denjenigen Gebieten kann es eine naive Kunst geben, wo 7*
1. Nur in denjenigen Gebieten kann es eine naive Kunſt geben, wo 7*
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1. Nur in denjenigen Gebieten kann es eine naive Kunſt geben, wo
das Material oder das Vehikel (dieſen Unterſchied wird die Lehre von
der Poeſie aufhellen) unmittelbar in den eigenen Organen der Phantaſie-
erfüllten Seele liegt, alſo in der Muſik und Poeſie (auch dem Tanz); dieſe
Unterſcheidung muß aus der Kunſtlehre vorausgenommen werden, die
naive Kunſt iſt aber eine ſo weſentliche, in der Lehre von der Technik
bedeutende Erſcheinung, daß ſie trotz ihrer Beſchränkung auf beſondere
Kunſtgebiete ſchon hier einzuführen iſt. Jene zwei Künſte vereinigen ſich
im Volksliede, an welchem die gedrängte Charakteriſtik der naiven Kunſt-
form, wie ſie der §. gibt, ſeines Orts zu erläutern iſt, ſo daß hier nur
die Hauptzüge hervorgehoben werden können. Zuerſt iſt ganz im Allge-
meinen die Lehre vom Verhältniß der allgemeinen und beſondern Phantaſie
auf dem Puncte, wo wir ſie in §. 416 ff. zuletzt ſtehen gelaſſen, wieder
aufzunehmen. Kann der allgemeinen Phantaſie, wie in §. 416 dargethan
iſt, nicht alle höhere Productivität im Sinne des innern Bildens abgehen,
ſo folgt von ſelbſt, daß ſie in irgend einem Maaß auch zur künſtleriſchen
Darſtellung fortgehen wird, eben in den Gebieten nämlich, wo dieß mit
einem Minimum von Technik möglich iſt, denn begäbe ſie ſich in die
Schule der Technik, ſo würden wir das Subject der allgemeinen Phantaſie
ſelbſt, nämlich das volksmäßig naive Geſammtſubject, verlieren. In den
bildenden Künſten, da dieſe ein gegenüberſtehendes ſprödes Material zu
bewältigen haben, kann bei dieſem Minimum der Technik von eigentlicher
Kunſt nicht die Rede ſein, ſondern was die allgemeine Phantaſie von
Kunſt-Aehnlichem hier leiſtet, bleibt auf der Stufe des Spieles ſtehen.
Wie nun das innere Phantaſiebild der allgemeinen Phantaſie das Geſammt-
product eines maſſenhaften Inſtincts iſt (§. 416), ſo auch ihr Werk: der
Sänger iſt nur „der Mund der Sage“ (Wilh. Grimm) und der einfachſten
Grundgefühle des Volksgemüths; ja die Sage und dieſe einfache
Gemüthswelt bildet ſich und lebt gerade in und durch dieſe kunſtloſe Kunſt.
In welcher Weiſe bei dieſem Zurücktreten des Einzelnen das Entſtehen
des Lieds und ſeiner Melodie zu denken iſt, darüber eben iſt in der Dar-
ſtellung des Volkslieds erſt Auskunft zu geben. Waldfriſche iſt der Charakter
der naiven Kunſt, ſie gleicht der ungefaßten Quelle im Waldesdunkel, ſie
blüht und duftet wie die Erdbeere unter den Mooſen des Tannendickichts.
Sie verhält ſich zur Kunſtpoeſie wie das Naturſchöne zur
Phantaſie: ſie iſt, wie jenes für dieſe, Vorausſetzung und Stoff
für die eigentliche Kunſt; von ihrer weiteren wichtigen Bedeutung, daß
nämlich eine ausgetrocknete Bildungskunſt aus dieſem Borne neue Jugend
trinkt, zeugt vor Allem der Moment in der deutſchen Literatur, als der
jugendliche Göthe an Herders Hand zur Naturkraft des Volkslieds und
Shakespeares (der zwar Kunſtdichter war, aber ſelbſt gegen den eindrin-
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