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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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sation setzt sich als bestimmend in das innere Leben der Phantasie fort.
Nun treten deutlich unterscheidbar sogleich die Unterarten hervor. Das
Auge sieht in dreierlei Weise: es mißt durch ein verhülltes Zählen Ver-
hältnisse, es umspannt durch ein verhülltes Tasten organisch geschwun-
gene Formen, es sieht den reinen Schein der Oberfläche in Licht und
Farbe, d. h. es sieht im vollkommensten Sinne, ist aber auch schon
auf jene verschwebenden Medien gerichtet, welche an die Anschauungs-
weise eines andern Sinns hinrühren. So theilt sich also die bildende
Phantasie in eine

a. auf ein messendes Sehen,
b. auf ein tastendes Sehen,
g. auf ein eigentliches Sehen begründete.

Man erkennt leicht: hier ist die Reihe der bildenden Künste vorge-
zeichnet: Baukunst, Bildnerkunst, Malerei. Nimmt man nun die nach
den Sphären des Stoffes gebildeten Arten (§. 403) hiezu, so erhellt deut-
lich, welcher Zusammenhang hier waltet. Das messende und tastende
Auge wird mit den großentheils unbestimmten Formen des Gegenstandes
der landschaftlichen Phantasie nichts zu thun haben, das erstere etwa nur
insoweit, als es die allgemeinen Grundformen der Raumerfüllung daraus
in unbewußter Ahnung sammelt, um sie zu einem Gebilde ganz eigener
Art, von dessen dunklem Verhältniß zum Naturschönen seiner Zeit die
Rede sein wird, zu verarbeiten; dem tastenden Auge aber wird sein
Reich in der Thier- und Menschenwelt aufgehen. Da es aber diese Welt
ganz nur auf die festen Formen ansieht, so wird es dieselbe keineswegs
gleichmäßig in alle ihre Sphären verfolgen können. Was sich in die
Tiefe der Menschenbrust zurückzieht und nicht Muskel und Glieder formt
und in Bewegung setzt, wird ihm verschlossen sein; daher wird es vorzüg-
lich im allgemein Menschlichen, in der Sphäre seiner allgemeinen und beson-
deren Formen nur auf beschränkte Weise, noch weniger in der Sphäre der in-
dividuellen Formen (Physiognomik der tief in sich zusammengefaßten Indi-
vidualität) sich bewegen, die Geschichte aber nur soweit begleiten können,
als ein sehr einfaches Pathos leicht übersichtliche Gruppen in Bewegung
setzt. Ebendaher wird die so organisirte Phantasie als messende einfach schön
und erhaben, dem Komischen aber ganz fremd, als tastende vorzüglich auf
das einfach Schöne angewiesen sein, das Erhabene der Kraft suchen, dem
Erhabenen des Subjects nicht in die Tiefe folgen, vom Tragischen nur
die erste und zweite, nicht die verwickelte dritte Form aufnehmen und vom
Komischen nur einen naiven Auflug sich aneignen können. Dagegen das
eigentlich sehende, auf den flüssigen Licht- und Farbenschein der Oberfläche
angewiesene Auge wird ein unendlich weiteres Feld sowohl in Rücksicht
der Ausdehnung auf Stoffe, als auch auf die Grundformen des Schönen

ſation ſetzt ſich als beſtimmend in das innere Leben der Phantaſie fort.
Nun treten deutlich unterſcheidbar ſogleich die Unterarten hervor. Das
Auge ſieht in dreierlei Weiſe: es mißt durch ein verhülltes Zählen Ver-
hältniſſe, es umſpannt durch ein verhülltes Taſten organiſch geſchwun-
gene Formen, es ſieht den reinen Schein der Oberfläche in Licht und
Farbe, d. h. es ſieht im vollkommenſten Sinne, iſt aber auch ſchon
auf jene verſchwebenden Medien gerichtet, welche an die Anſchauungs-
weiſe eines andern Sinns hinrühren. So theilt ſich alſo die bildende
Phantaſie in eine

α. auf ein meſſendes Sehen,
β. auf ein taſtendes Sehen,
γ. auf ein eigentliches Sehen begründete.

Man erkennt leicht: hier iſt die Reihe der bildenden Künſte vorge-
zeichnet: Baukunſt, Bildnerkunſt, Malerei. Nimmt man nun die nach
den Sphären des Stoffes gebildeten Arten (§. 403) hiezu, ſo erhellt deut-
lich, welcher Zuſammenhang hier waltet. Das meſſende und taſtende
Auge wird mit den großentheils unbeſtimmten Formen des Gegenſtandes
der landſchaftlichen Phantaſie nichts zu thun haben, das erſtere etwa nur
inſoweit, als es die allgemeinen Grundformen der Raumerfüllung daraus
in unbewußter Ahnung ſammelt, um ſie zu einem Gebilde ganz eigener
Art, von deſſen dunklem Verhältniß zum Naturſchönen ſeiner Zeit die
Rede ſein wird, zu verarbeiten; dem taſtenden Auge aber wird ſein
Reich in der Thier- und Menſchenwelt aufgehen. Da es aber dieſe Welt
ganz nur auf die feſten Formen anſieht, ſo wird es dieſelbe keineswegs
gleichmäßig in alle ihre Sphären verfolgen können. Was ſich in die
Tiefe der Menſchenbruſt zurückzieht und nicht Muſkel und Glieder formt
und in Bewegung ſetzt, wird ihm verſchloſſen ſein; daher wird es vorzüg-
lich im allgemein Menſchlichen, in der Sphäre ſeiner allgemeinen und beſon-
deren Formen nur auf beſchränkte Weiſe, noch weniger in der Sphäre der in-
dividuellen Formen (Phyſiognomik der tief in ſich zuſammengefaßten Indi-
vidualität) ſich bewegen, die Geſchichte aber nur ſoweit begleiten können,
als ein ſehr einfaches Pathos leicht überſichtliche Gruppen in Bewegung
ſetzt. Ebendaher wird die ſo organiſirte Phantaſie als meſſende einfach ſchön
und erhaben, dem Komiſchen aber ganz fremd, als taſtende vorzüglich auf
das einfach Schöne angewieſen ſein, das Erhabene der Kraft ſuchen, dem
Erhabenen des Subjects nicht in die Tiefe folgen, vom Tragiſchen nur
die erſte und zweite, nicht die verwickelte dritte Form aufnehmen und vom
Komiſchen nur einen naiven Auflug ſich aneignen können. Dagegen das
eigentlich ſehende, auf den flüſſigen Licht- und Farbenſchein der Oberfläche
angewieſene Auge wird ein unendlich weiteres Feld ſowohl in Rückſicht
der Ausdehnung auf Stoffe, als auch auf die Grundformen des Schönen

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[380/0094] ſation ſetzt ſich als beſtimmend in das innere Leben der Phantaſie fort. Nun treten deutlich unterſcheidbar ſogleich die Unterarten hervor. Das Auge ſieht in dreierlei Weiſe: es mißt durch ein verhülltes Zählen Ver- hältniſſe, es umſpannt durch ein verhülltes Taſten organiſch geſchwun- gene Formen, es ſieht den reinen Schein der Oberfläche in Licht und Farbe, d. h. es ſieht im vollkommenſten Sinne, iſt aber auch ſchon auf jene verſchwebenden Medien gerichtet, welche an die Anſchauungs- weiſe eines andern Sinns hinrühren. So theilt ſich alſo die bildende Phantaſie in eine α. auf ein meſſendes Sehen, β. auf ein taſtendes Sehen, γ. auf ein eigentliches Sehen begründete. Man erkennt leicht: hier iſt die Reihe der bildenden Künſte vorge- zeichnet: Baukunſt, Bildnerkunſt, Malerei. Nimmt man nun die nach den Sphären des Stoffes gebildeten Arten (§. 403) hiezu, ſo erhellt deut- lich, welcher Zuſammenhang hier waltet. Das meſſende und taſtende Auge wird mit den großentheils unbeſtimmten Formen des Gegenſtandes der landſchaftlichen Phantaſie nichts zu thun haben, das erſtere etwa nur inſoweit, als es die allgemeinen Grundformen der Raumerfüllung daraus in unbewußter Ahnung ſammelt, um ſie zu einem Gebilde ganz eigener Art, von deſſen dunklem Verhältniß zum Naturſchönen ſeiner Zeit die Rede ſein wird, zu verarbeiten; dem taſtenden Auge aber wird ſein Reich in der Thier- und Menſchenwelt aufgehen. Da es aber dieſe Welt ganz nur auf die feſten Formen anſieht, ſo wird es dieſelbe keineswegs gleichmäßig in alle ihre Sphären verfolgen können. Was ſich in die Tiefe der Menſchenbruſt zurückzieht und nicht Muſkel und Glieder formt und in Bewegung ſetzt, wird ihm verſchloſſen ſein; daher wird es vorzüg- lich im allgemein Menſchlichen, in der Sphäre ſeiner allgemeinen und beſon- deren Formen nur auf beſchränkte Weiſe, noch weniger in der Sphäre der in- dividuellen Formen (Phyſiognomik der tief in ſich zuſammengefaßten Indi- vidualität) ſich bewegen, die Geſchichte aber nur ſoweit begleiten können, als ein ſehr einfaches Pathos leicht überſichtliche Gruppen in Bewegung ſetzt. Ebendaher wird die ſo organiſirte Phantaſie als meſſende einfach ſchön und erhaben, dem Komiſchen aber ganz fremd, als taſtende vorzüglich auf das einfach Schöne angewieſen ſein, das Erhabene der Kraft ſuchen, dem Erhabenen des Subjects nicht in die Tiefe folgen, vom Tragiſchen nur die erſte und zweite, nicht die verwickelte dritte Form aufnehmen und vom Komiſchen nur einen naiven Auflug ſich aneignen können. Dagegen das eigentlich ſehende, auf den flüſſigen Licht- und Farbenſchein der Oberfläche angewieſene Auge wird ein unendlich weiteres Feld ſowohl in Rückſicht der Ausdehnung auf Stoffe, als auch auf die Grundformen des Schönen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/94>, abgerufen am 21.11.2024.