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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Wer theilt die fließend immer gleiche Reihe
Belebend ab, daß sie sich rhythmisch regt?
Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe,
Wo es in herrlichen Accorden schlägt?
Wer sichert den Olymp, vereinet Götter?
Des Menschen Kraft im Dichter offenbart.
§. 400.

Die Grenzfrage über das Recht des Objects und das Recht der Freiheit
der Phantasie im Eingießen dessen, was dem Subject und seiner Zeit, und in
Ausscheidung dessen, was dem Object angehört, läßt in abstracter Allgemein-
heit keine nähere Lösung zu, als wie solche im Bisherigen enthalten ist. Be-
sonders wichtig wird sie bei geschichtlichen Stoffen, kann aber auch hier nicht
anders beantwortet werden, als durch Aufstellung des Gesetzes, daß der natur
schöne Gegenstand, indem er Stoff wird, jeder Erweiterung und Ausscheidung
sich unterwerfen muß, so lange sie nicht seiner Gattung widerspricht. Was
insbesondere die Formen der Cultur und umgebenden Natur betrifft, so genügt
zur sogenannten historischen Treue die Einhaltung des allgemeinen Typus.

Es könnte scheinen, dieser Gegenstand sei erst in der Kunstlehre
aufzunehmen, und wir werden allerdings finden, daß das innere Ideal
auf dem Uebergang in das Kunstwerk noch auf viele Lücken stößt, wo
es erfährt, daß es mit seinem Stoffe sich noch lange nicht genug ausein-
andergesetzt hat, daß es ferner hier erst in ein Verhältniß zu dem Zu-
schauer zu treten hat, der außer dem Ideal auch den Stoff desselben
kennt und beide vergleichen wird, dem man daher, noch abgesehen von
der Sympathie, die das Kunstwerk überhaupt für sich haben muß, gewisse
besondere Rücksichten schuldig sein wird. Inzwischen ist doch das Kunst-
werk im innern Ideale seiner ganzen Anlage nach da; hier liegt der
erste und eigentliche Wurf, und fehlt uns noch ein eigentlicher Zuschauer,
so haben wir einen solchen doch im Subjecte der Phantasie selbst, das
sich, seine Anschauungsweise, seine Zeit und ihre Forderungen zum ersten
Entwurfe der Phantasie schon mitbringt; wir haben im Dichter auch den
Zuschauer.

Die Frage über die objective Treue und ihre Grenze betrifft eigent-
lich alle Sphären von naturschönen Stoffen, tritt aber erst bei den geschicht-
lichen in solcher Bedeutung auf, daß sie die Antwort, welche anders als in
den allgemeinen Sätzen der bisherigen Entwicklung eigentlich nicht gegeben
werden kann, bestimmter zu fordern scheint. Aber auch hier kann dem
allgemeinen Gesetze einer Bindung und Scheidung nur so viel bestimmtere
Wendung gegeben werden, daß man ihm einen diesem besondern Inhalt

Vischer's Aesthetik. 2. Band. 24
Wer theilt die fließend immer gleiche Reihe
Belebend ab, daß ſie ſich rhythmiſch regt?
Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe,
Wo es in herrlichen Accorden ſchlägt?
Wer ſichert den Olymp, vereinet Götter?
Des Menſchen Kraft im Dichter offenbart.
§. 400.

Die Grenzfrage über das Recht des Objects und das Recht der Freiheit
der Phantaſie im Eingießen deſſen, was dem Subject und ſeiner Zeit, und in
Ausſcheidung deſſen, was dem Object angehört, läßt in abſtracter Allgemein-
heit keine nähere Löſung zu, als wie ſolche im Bisherigen enthalten iſt. Be-
ſonders wichtig wird ſie bei geſchichtlichen Stoffen, kann aber auch hier nicht
anders beantwortet werden, als durch Aufſtellung des Geſetzes, daß der natur
ſchöne Gegenſtand, indem er Stoff wird, jeder Erweiterung und Ausſcheidung
ſich unterwerfen muß, ſo lange ſie nicht ſeiner Gattung widerſpricht. Was
insbeſondere die Formen der Cultur und umgebenden Natur betrifft, ſo genügt
zur ſogenannten hiſtoriſchen Treue die Einhaltung des allgemeinen Typus.

Es könnte ſcheinen, dieſer Gegenſtand ſei erſt in der Kunſtlehre
aufzunehmen, und wir werden allerdings finden, daß das innere Ideal
auf dem Uebergang in das Kunſtwerk noch auf viele Lücken ſtößt, wo
es erfährt, daß es mit ſeinem Stoffe ſich noch lange nicht genug ausein-
andergeſetzt hat, daß es ferner hier erſt in ein Verhältniß zu dem Zu-
ſchauer zu treten hat, der außer dem Ideal auch den Stoff deſſelben
kennt und beide vergleichen wird, dem man daher, noch abgeſehen von
der Sympathie, die das Kunſtwerk überhaupt für ſich haben muß, gewiſſe
beſondere Rückſichten ſchuldig ſein wird. Inzwiſchen iſt doch das Kunſt-
werk im innern Ideale ſeiner ganzen Anlage nach da; hier liegt der
erſte und eigentliche Wurf, und fehlt uns noch ein eigentlicher Zuſchauer,
ſo haben wir einen ſolchen doch im Subjecte der Phantaſie ſelbſt, das
ſich, ſeine Anſchauungsweiſe, ſeine Zeit und ihre Forderungen zum erſten
Entwurfe der Phantaſie ſchon mitbringt; wir haben im Dichter auch den
Zuſchauer.

Die Frage über die objective Treue und ihre Grenze betrifft eigent-
lich alle Sphären von naturſchönen Stoffen, tritt aber erſt bei den geſchicht-
lichen in ſolcher Bedeutung auf, daß ſie die Antwort, welche anders als in
den allgemeinen Sätzen der bisherigen Entwicklung eigentlich nicht gegeben
werden kann, beſtimmter zu fordern ſcheint. Aber auch hier kann dem
allgemeinen Geſetze einer Bindung und Scheidung nur ſo viel beſtimmtere
Wendung gegeben werden, daß man ihm einen dieſem beſondern Inhalt

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 24
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[363/0077] Wer theilt die fließend immer gleiche Reihe Belebend ab, daß ſie ſich rhythmiſch regt? Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe, Wo es in herrlichen Accorden ſchlägt? Wer ſichert den Olymp, vereinet Götter? Des Menſchen Kraft im Dichter offenbart. §. 400. Die Grenzfrage über das Recht des Objects und das Recht der Freiheit der Phantaſie im Eingießen deſſen, was dem Subject und ſeiner Zeit, und in Ausſcheidung deſſen, was dem Object angehört, läßt in abſtracter Allgemein- heit keine nähere Löſung zu, als wie ſolche im Bisherigen enthalten iſt. Be- ſonders wichtig wird ſie bei geſchichtlichen Stoffen, kann aber auch hier nicht anders beantwortet werden, als durch Aufſtellung des Geſetzes, daß der natur ſchöne Gegenſtand, indem er Stoff wird, jeder Erweiterung und Ausſcheidung ſich unterwerfen muß, ſo lange ſie nicht ſeiner Gattung widerſpricht. Was insbeſondere die Formen der Cultur und umgebenden Natur betrifft, ſo genügt zur ſogenannten hiſtoriſchen Treue die Einhaltung des allgemeinen Typus. Es könnte ſcheinen, dieſer Gegenſtand ſei erſt in der Kunſtlehre aufzunehmen, und wir werden allerdings finden, daß das innere Ideal auf dem Uebergang in das Kunſtwerk noch auf viele Lücken ſtößt, wo es erfährt, daß es mit ſeinem Stoffe ſich noch lange nicht genug ausein- andergeſetzt hat, daß es ferner hier erſt in ein Verhältniß zu dem Zu- ſchauer zu treten hat, der außer dem Ideal auch den Stoff deſſelben kennt und beide vergleichen wird, dem man daher, noch abgeſehen von der Sympathie, die das Kunſtwerk überhaupt für ſich haben muß, gewiſſe beſondere Rückſichten ſchuldig ſein wird. Inzwiſchen iſt doch das Kunſt- werk im innern Ideale ſeiner ganzen Anlage nach da; hier liegt der erſte und eigentliche Wurf, und fehlt uns noch ein eigentlicher Zuſchauer, ſo haben wir einen ſolchen doch im Subjecte der Phantaſie ſelbſt, das ſich, ſeine Anſchauungsweiſe, ſeine Zeit und ihre Forderungen zum erſten Entwurfe der Phantaſie ſchon mitbringt; wir haben im Dichter auch den Zuſchauer. Die Frage über die objective Treue und ihre Grenze betrifft eigent- lich alle Sphären von naturſchönen Stoffen, tritt aber erſt bei den geſchicht- lichen in ſolcher Bedeutung auf, daß ſie die Antwort, welche anders als in den allgemeinen Sätzen der bisherigen Entwicklung eigentlich nicht gegeben werden kann, beſtimmter zu fordern ſcheint. Aber auch hier kann dem allgemeinen Geſetze einer Bindung und Scheidung nur ſo viel beſtimmtere Wendung gegeben werden, daß man ihm einen dieſem beſondern Inhalt Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 24

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/77>, abgerufen am 21.11.2024.