der Dichter selbst war, indem er fingirte, wie das Selbsterlebte ohne sitt- liche Ueberwindung endigen müßte, indem er dieß in's Objective hinüber warf, völlig frei. -- Aber auch was nicht unmittelbar selbsterlebt ist, eine vergangene Begebenheit, an der ich nur leidenschaftlich für oder wider Theil genommen, muß mir erst so weit wieder zurück- und gegenüber treten, daß ich sie, ohne die Theilnahme darum zu verlieren, gleichmäßig und unbefangen betrachten kann, daß daher selbst die feindlichen Kräfte, die darin auftreten, Gerechtigkeit von mir erfahren, so fest ich auch an der von ihnen befeindeten Idee halte. Die Hand, die vom Fieber zittert, sagt Hippel, kann das Fieber nicht darstellen. --
§. 394.
Das Subject und Object müssen aber in Eines zusammengehen und diese Bewegung muß mit einem völligen Zurücktreten vom Object, einer Einkehr des Subjects in sich beginnen: ein Zustand der Stimmung, worin das erste Bild des Gegenstands in einen gestaltlosen Uebel versinkt, aber in der unter- scheidungslssen Verschmelzung desto inniger das ganze Leben des Selbst mit ihm in Eines aufgeht; eine reine Lust, worin sowohl die Erhebung und Entrückung aus der Welt des getrübten Daseins empfunden, als auch die neue Gestaltung geahnt wird; ein Insichsein, das als Außersichsein erscheint; bewußtlose und unwillkührliche Trunkenheit der Begeisterung: der Anfang des dichterischen Wahusinns.
Der vorhergehende §. sprach von den so zu sagen nur historischen Voraussetzungen; der jetzige muß vornen anfangen, den ganzen Act be- greiflich zu machen. Das Erste ist die Stimmung. Wer diesen Zustand nicht kennt, von welchem sich Göthe und Schiller so viel schreiben, dieses durch alle Nerven zitternde Gefühl einer unnennbaren Erhöhung, deren Grund und Gegenstand man zunächst nicht zu sagen weiß, die Alles rings umher in einem unbekannten und doch so bekannten neuen Lichte leuchten sieht und doch nichts Einzelnes mehr erfaßt, sondern nur tief in sich selig ist, der kennt nicht die Geburtsstätte und Mysterien der schaffenden Phan- tasie. Dieß erste Moment ihres Prozesses ist also zunächst ein völliges Zurücktreten von Object, denn dieses soll nicht wiederholt, sondern es soll sterben und neugeboren werden. Das Object geht in dieß "stille Schat- tenland," in dieß Grab ein, worin es zuerst erlöschen soll. Wenn schon der wirkliche Tod und die Zeitferne verklärt ("was unsterblich im Gesang soll leben, muß im Leben untergehn"), so muß nun auch das erste, schon dem Geist gewonnene, aber noch von den Malen der Erdenschwere be- fleckte Bild des Gegenstands einsinken und sterben, um neu zu erstehen.
der Dichter ſelbſt war, indem er fingirte, wie das Selbſterlebte ohne ſitt- liche Ueberwindung endigen müßte, indem er dieß in’s Objective hinüber warf, völlig frei. — Aber auch was nicht unmittelbar ſelbſterlebt iſt, eine vergangene Begebenheit, an der ich nur leidenſchaftlich für oder wider Theil genommen, muß mir erſt ſo weit wieder zurück- und gegenüber treten, daß ich ſie, ohne die Theilnahme darum zu verlieren, gleichmäßig und unbefangen betrachten kann, daß daher ſelbſt die feindlichen Kräfte, die darin auftreten, Gerechtigkeit von mir erfahren, ſo feſt ich auch an der von ihnen befeindeten Idee halte. Die Hand, die vom Fieber zittert, ſagt Hippel, kann das Fieber nicht darſtellen. —
§. 394.
Das Subject und Object müſſen aber in Eines zuſammengehen und dieſe Bewegung muß mit einem völligen Zurücktreten vom Object, einer Einkehr des Subjects in ſich beginnen: ein Zuſtand der Stimmung, worin das erſte Bild des Gegenſtands in einen geſtaltloſen Uebel verſinkt, aber in der unter- ſcheidungslsſen Verſchmelzung deſto inniger das ganze Leben des Selbſt mit ihm in Eines aufgeht; eine reine Luſt, worin ſowohl die Erhebung und Entrückung aus der Welt des getrübten Daſeins empfunden, als auch die neue Geſtaltung geahnt wird; ein Inſichſein, das als Außerſichſein erſcheint; bewußtloſe und unwillkührliche Trunkenheit der Begeiſterung: der Anfang des dichteriſchen Wahuſinns.
Der vorhergehende §. ſprach von den ſo zu ſagen nur hiſtoriſchen Vorausſetzungen; der jetzige muß vornen anfangen, den ganzen Act be- greiflich zu machen. Das Erſte iſt die Stimmung. Wer dieſen Zuſtand nicht kennt, von welchem ſich Göthe und Schiller ſo viel ſchreiben, dieſes durch alle Nerven zitternde Gefühl einer unnennbaren Erhöhung, deren Grund und Gegenſtand man zunächſt nicht zu ſagen weiß, die Alles rings umher in einem unbekannten und doch ſo bekannten neuen Lichte leuchten ſieht und doch nichts Einzelnes mehr erfaßt, ſondern nur tief in ſich ſelig iſt, der kennt nicht die Geburtsſtätte und Myſterien der ſchaffenden Phan- taſie. Dieß erſte Moment ihres Prozeſſes iſt alſo zunächſt ein völliges Zurücktreten von Object, denn dieſes ſoll nicht wiederholt, ſondern es ſoll ſterben und neugeboren werden. Das Object geht in dieß „ſtille Schat- tenland,“ in dieß Grab ein, worin es zuerſt erlöſchen ſoll. Wenn ſchon der wirkliche Tod und die Zeitferne verklärt („was unſterblich im Geſang ſoll leben, muß im Leben untergehn“), ſo muß nun auch das erſte, ſchon dem Geiſt gewonnene, aber noch von den Malen der Erdenſchwere be- fleckte Bild des Gegenſtands einſinken und ſterben, um neu zu erſtehen.
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vergangene Begebenheit, an der ich nur leidenſchaftlich für oder wider
Theil genommen, muß mir erſt ſo weit wieder zurück- und gegenüber
treten, daß ich ſie, ohne die Theilnahme darum zu verlieren, gleichmäßig
und unbefangen betrachten kann, daß daher ſelbſt die feindlichen Kräfte,
die darin auftreten, Gerechtigkeit von mir erfahren, ſo feſt ich auch an
der von ihnen befeindeten Idee halte. Die Hand, die vom Fieber zittert,
ſagt Hippel, kann das Fieber nicht darſtellen. —
§. 394.
Das Subject und Object müſſen aber in Eines zuſammengehen und dieſe
Bewegung muß mit einem völligen Zurücktreten vom Object, einer Einkehr des
Subjects in ſich beginnen: ein Zuſtand der Stimmung, worin das erſte
Bild des Gegenſtands in einen geſtaltloſen Uebel verſinkt, aber in der unter-
ſcheidungslsſen Verſchmelzung deſto inniger das ganze Leben des Selbſt mit ihm
in Eines aufgeht; eine reine Luſt, worin ſowohl die Erhebung und Entrückung
aus der Welt des getrübten Daſeins empfunden, als auch die neue Geſtaltung
geahnt wird; ein Inſichſein, das als Außerſichſein erſcheint; bewußtloſe und
unwillkührliche Trunkenheit der Begeiſterung: der Anfang des dichteriſchen
Wahuſinns.
Der vorhergehende §. ſprach von den ſo zu ſagen nur hiſtoriſchen
Vorausſetzungen; der jetzige muß vornen anfangen, den ganzen Act be-
greiflich zu machen. Das Erſte iſt die Stimmung. Wer dieſen Zuſtand
nicht kennt, von welchem ſich Göthe und Schiller ſo viel ſchreiben, dieſes
durch alle Nerven zitternde Gefühl einer unnennbaren Erhöhung, deren
Grund und Gegenſtand man zunächſt nicht zu ſagen weiß, die Alles rings
umher in einem unbekannten und doch ſo bekannten neuen Lichte leuchten
ſieht und doch nichts Einzelnes mehr erfaßt, ſondern nur tief in ſich ſelig
iſt, der kennt nicht die Geburtsſtätte und Myſterien der ſchaffenden Phan-
taſie. Dieß erſte Moment ihres Prozeſſes iſt alſo zunächſt ein völliges
Zurücktreten von Object, denn dieſes ſoll nicht wiederholt, ſondern es ſoll
ſterben und neugeboren werden. Das Object geht in dieß „ſtille Schat-
tenland,“ in dieß Grab ein, worin es zuerſt erlöſchen ſoll. Wenn ſchon
der wirkliche Tod und die Zeitferne verklärt („was unſterblich im Geſang
ſoll leben, muß im Leben untergehn“), ſo muß nun auch das erſte, ſchon
dem Geiſt gewonnene, aber noch von den Malen der Erdenſchwere be-
fleckte Bild des Gegenſtands einſinken und ſterben, um neu zu erſtehen.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/58>, abgerufen am 16.02.2025.
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