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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Vortheil, an großen, durch Sage schon gehobenen und vereinfachten Fabeln
aus der vorgeschichtlichen Zeit sich thätig erweisen zu können. Dieß Bei-
spiel ist aus einer schon sehr reichen Sphäre der Kunst genommen. Ein
anderes, aus der Landschaftmalerei, ist einfacher. Die sogenannte historische
Landschaft war gewöhnlich ganz frei componirt, nur einzelne Studien nach
der Natur wurden eingewoben. Sie hatte ebendarum zu wenig Local-
physiognomie, Individualität, war abstract, und es ist als ein großer
Fortschritt zu erkennen, wenn jetzt nicht stofflose Erfindung, sondern nur
freie Durchbildung eines vorgefundenen Ganzen als Gesetz gilt. Noch
ein Beispiel aus der Plastik: Thorwaldsen hatte ein Modell; zufällig, um
auszuruhen, setzt sich der müde nackte Junge und hält naiv ein Knie mit
beiden Händen; Thorwaldsen hieß ihn so verbleiben und hatte ein Motiv
von unnachahmlich glücklicher Naturschönheit als Stoff eines ursprünglich
gar nicht beabsichtigten selbständigen Werks gefunden.

2. Alles Naturschöne wirkt mehr oder weniger stoffartig (§. 381),
die Anschauung, da sie die Mängel desselben noch nicht tilgt (§. 387), ist
ebendaher nicht frei von pathologischer Affection. Diese Wirkung wird
natürlich am stärksten sein, wenn Selbsterlebtes den ästhetischen Stoff bildet.
Ein schönes Weib kann einem Bildhauer Vorbild werden; liebt er sie
aber und hat diese Liebe schon erschütternde Schicksale gehabt, so ist eine
pathologische Verwachsung so starker Art da, daß zum Standpunkte der
reinen Form der Uebergang schwer ist. Hier müssen wir denn eine bereits
eingetretene Abkühlung der Leidenschaft fordern; auch diese freilich mit
Unterschied. Soll ich nur den Gegenstand darstellen, so kann und darf
die stoffartige Leidenschaft ganz abgekühlt sein, soll ich aber meine Leidenschaft
selbst (z. B. in einem Roman) darstellen, so muß sie noch in die eingetretene
Kühle nachwirken, fortzittern, eine Mitte zwischen Gegenwart und Erinnerung.
Da die Darstellung selbst es wesentlich ist, welche die Leidenschaft vollends be-
sänftigt, so haben wir hier allerdings einen begreiflichen Zirkel vor uns: die
Ablösung der Leidenschaft vom eigenen Selbst muß vorangehen, wenn dieselbe
objectives inneres Bild und dieses Bild reine Form werden soll, und: die Gabe
der Phantasie bewerkstelligt diese Ablösung aus ihrem eigenen Bedürfniß, so
daß sie dem sittlichen Leben, selbst abgesehen von der Kunst, erleichternd die
Hand bietet. So heilte sich Göthe von der Leidenschaft, um sie darstellen zu
können und zugleich beförderte die Darstellung seinen Heilungsprozeß. Uebri-
gens sind die Leiden Werthers noch durch einen weitern Umstand für unsern
Zusammenhang merkwürdig. Die dargestellte Leidenschaft ist selbst erlebt;
zum Schlusse aber hat das Ende des jungen Jerusalem als Stoff gedient.
Göthe wußte einen solchen anfangs nicht zu finden; nun kam die Kunde
von diesem Selbstmord und er wußte Rath: das absolute Pathos der
Sentimentalität mußte mit dieser That der Selbstzerstörung endigen und

Vortheil, an großen, durch Sage ſchon gehobenen und vereinfachten Fabeln
aus der vorgeſchichtlichen Zeit ſich thätig erweiſen zu können. Dieß Bei-
ſpiel iſt aus einer ſchon ſehr reichen Sphäre der Kunſt genommen. Ein
anderes, aus der Landſchaftmalerei, iſt einfacher. Die ſogenannte hiſtoriſche
Landſchaft war gewöhnlich ganz frei componirt, nur einzelne Studien nach
der Natur wurden eingewoben. Sie hatte ebendarum zu wenig Local-
phyſiognomie, Individualität, war abſtract, und es iſt als ein großer
Fortſchritt zu erkennen, wenn jetzt nicht ſtoffloſe Erfindung, ſondern nur
freie Durchbildung eines vorgefundenen Ganzen als Geſetz gilt. Noch
ein Beiſpiel aus der Plaſtik: Thorwaldſen hatte ein Modell; zufällig, um
auszuruhen, ſetzt ſich der müde nackte Junge und hält naiv ein Knie mit
beiden Händen; Thorwaldſen hieß ihn ſo verbleiben und hatte ein Motiv
von unnachahmlich glücklicher Naturſchönheit als Stoff eines urſprünglich
gar nicht beabſichtigten ſelbſtändigen Werks gefunden.

2. Alles Naturſchöne wirkt mehr oder weniger ſtoffartig (§. 381),
die Anſchauung, da ſie die Mängel deſſelben noch nicht tilgt (§. 387), iſt
ebendaher nicht frei von pathologiſcher Affection. Dieſe Wirkung wird
natürlich am ſtärkſten ſein, wenn Selbſterlebtes den äſthetiſchen Stoff bildet.
Ein ſchönes Weib kann einem Bildhauer Vorbild werden; liebt er ſie
aber und hat dieſe Liebe ſchon erſchütternde Schickſale gehabt, ſo iſt eine
pathologiſche Verwachſung ſo ſtarker Art da, daß zum Standpunkte der
reinen Form der Uebergang ſchwer iſt. Hier müſſen wir denn eine bereits
eingetretene Abkühlung der Leidenſchaft fordern; auch dieſe freilich mit
Unterſchied. Soll ich nur den Gegenſtand darſtellen, ſo kann und darf
die ſtoffartige Leidenſchaft ganz abgekühlt ſein, ſoll ich aber meine Leidenſchaft
ſelbſt (z. B. in einem Roman) darſtellen, ſo muß ſie noch in die eingetretene
Kühle nachwirken, fortzittern, eine Mitte zwiſchen Gegenwart und Erinnerung.
Da die Darſtellung ſelbſt es weſentlich iſt, welche die Leidenſchaft vollends be-
ſänftigt, ſo haben wir hier allerdings einen begreiflichen Zirkel vor uns: die
Ablöſung der Leidenſchaft vom eigenen Selbſt muß vorangehen, wenn dieſelbe
objectives inneres Bild und dieſes Bild reine Form werden ſoll, und: die Gabe
der Phantaſie bewerkſtelligt dieſe Ablöſung aus ihrem eigenen Bedürfniß, ſo
daß ſie dem ſittlichen Leben, ſelbſt abgeſehen von der Kunſt, erleichternd die
Hand bietet. So heilte ſich Göthe von der Leidenſchaft, um ſie darſtellen zu
können und zugleich beförderte die Darſtellung ſeinen Heilungsprozeß. Uebri-
gens ſind die Leiden Werthers noch durch einen weitern Umſtand für unſern
Zuſammenhang merkwürdig. Die dargeſtellte Leidenſchaft iſt ſelbſt erlebt;
zum Schluſſe aber hat das Ende des jungen Jeruſalem als Stoff gedient.
Göthe wußte einen ſolchen anfangs nicht zu finden; nun kam die Kunde
von dieſem Selbſtmord und er wußte Rath: das abſolute Pathos der
Sentimentalität mußte mit dieſer That der Selbſtzerſtörung endigen und

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[343/0057] Vortheil, an großen, durch Sage ſchon gehobenen und vereinfachten Fabeln aus der vorgeſchichtlichen Zeit ſich thätig erweiſen zu können. Dieß Bei- ſpiel iſt aus einer ſchon ſehr reichen Sphäre der Kunſt genommen. Ein anderes, aus der Landſchaftmalerei, iſt einfacher. Die ſogenannte hiſtoriſche Landſchaft war gewöhnlich ganz frei componirt, nur einzelne Studien nach der Natur wurden eingewoben. Sie hatte ebendarum zu wenig Local- phyſiognomie, Individualität, war abſtract, und es iſt als ein großer Fortſchritt zu erkennen, wenn jetzt nicht ſtoffloſe Erfindung, ſondern nur freie Durchbildung eines vorgefundenen Ganzen als Geſetz gilt. Noch ein Beiſpiel aus der Plaſtik: Thorwaldſen hatte ein Modell; zufällig, um auszuruhen, ſetzt ſich der müde nackte Junge und hält naiv ein Knie mit beiden Händen; Thorwaldſen hieß ihn ſo verbleiben und hatte ein Motiv von unnachahmlich glücklicher Naturſchönheit als Stoff eines urſprünglich gar nicht beabſichtigten ſelbſtändigen Werks gefunden. 2. Alles Naturſchöne wirkt mehr oder weniger ſtoffartig (§. 381), die Anſchauung, da ſie die Mängel deſſelben noch nicht tilgt (§. 387), iſt ebendaher nicht frei von pathologiſcher Affection. Dieſe Wirkung wird natürlich am ſtärkſten ſein, wenn Selbſterlebtes den äſthetiſchen Stoff bildet. Ein ſchönes Weib kann einem Bildhauer Vorbild werden; liebt er ſie aber und hat dieſe Liebe ſchon erſchütternde Schickſale gehabt, ſo iſt eine pathologiſche Verwachſung ſo ſtarker Art da, daß zum Standpunkte der reinen Form der Uebergang ſchwer iſt. Hier müſſen wir denn eine bereits eingetretene Abkühlung der Leidenſchaft fordern; auch dieſe freilich mit Unterſchied. Soll ich nur den Gegenſtand darſtellen, ſo kann und darf die ſtoffartige Leidenſchaft ganz abgekühlt ſein, ſoll ich aber meine Leidenſchaft ſelbſt (z. B. in einem Roman) darſtellen, ſo muß ſie noch in die eingetretene Kühle nachwirken, fortzittern, eine Mitte zwiſchen Gegenwart und Erinnerung. Da die Darſtellung ſelbſt es weſentlich iſt, welche die Leidenſchaft vollends be- ſänftigt, ſo haben wir hier allerdings einen begreiflichen Zirkel vor uns: die Ablöſung der Leidenſchaft vom eigenen Selbſt muß vorangehen, wenn dieſelbe objectives inneres Bild und dieſes Bild reine Form werden ſoll, und: die Gabe der Phantaſie bewerkſtelligt dieſe Ablöſung aus ihrem eigenen Bedürfniß, ſo daß ſie dem ſittlichen Leben, ſelbſt abgeſehen von der Kunſt, erleichternd die Hand bietet. So heilte ſich Göthe von der Leidenſchaft, um ſie darſtellen zu können und zugleich beförderte die Darſtellung ſeinen Heilungsprozeß. Uebri- gens ſind die Leiden Werthers noch durch einen weitern Umſtand für unſern Zuſammenhang merkwürdig. Die dargeſtellte Leidenſchaft iſt ſelbſt erlebt; zum Schluſſe aber hat das Ende des jungen Jeruſalem als Stoff gedient. Göthe wußte einen ſolchen anfangs nicht zu finden; nun kam die Kunde von dieſem Selbſtmord und er wußte Rath: das abſolute Pathos der Sentimentalität mußte mit dieſer That der Selbſtzerſtörung endigen und

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/57>, abgerufen am 21.11.2024.