die theoretische Auflösung; jene eine Zerstörung des Körpers, um ihn stoffartig zu genießen, oder aus Haß, um ihm Schmerzen zu bereiten, diese eine anatomische, chemische u. s. w., um ihn zu erkennen. Daß uns die erstere den Gegenstand als Ausdruck seines Wesens zeige, wird Niemand behaupten; denn nur zufällig legt sie diese oder jene Theile des inneren Baues blos; die andere aber ist mit ihrer Erkenntniß nicht früher fertig, als bis sie alle Theile blos gelegt, durchsucht, dann in ihrer Zusammenwirkung begriffen, also die aufgelöste Gestalt sich wieder aufge- baut hat; dann erkennt sie auf begriffsmäßigem Wege, daß dieser Bau allerdings auf seiner Gesammtoberfläche eben das ausdrückt, was er ist. In dieser Schlußerkenntniß hat sie also auf vermittelte Weise präsent, was die Anschanung (ein Act des wirklichen, aber ungetheilten Geistes) auf unmittelbare Weise präsent hat. Vergleicht man aber die Anschauung nicht mit dieser Schlußerkenntniß, sondern mit der einzelnen Erkenntniß einzelner Theile der aufgelösten Gestalt, so ist sie vollkommener, als diese, denn sie hat den Gesammt-Ausdruck des Wesens vor sich, diese nicht; mit Recht schaudert sie daher vor der Auflösung, abgesehen von ihrem Endziele, als vor einem Grausenhaften. Künstler studiren Anatomie, Perspective u. s. w., um sie wieder zu vergessen, d. h. um das Einzelne der Erkenntniß als ein verschwindendes Mittel in den Instinct der Ge- sammt-Anschauung zurückzuführen. Soweit hätten wir also schon in der Anschauung den reinen Schein, den Ausdruck des Wesens in der Ge- sammtwirkung der Oberfläche (§. 54). Allein nun erfaßt die An- schauung das Einzelne in seinem unmittelbaren Dasein. Sie erfaßt es zwar, indem sie es als Ausdruck seines Wesens erfaßt, zugleich als In- dividuum seiner Gattung, sie bekommt die Idee mit. Das Allgemeine im Einzelnen, das Einzelne als Wirklichkeit des Allgemeinen zu fassen, dazu gehört so wenig die abstracte Begriffsbildung, als ihre naturwissenschaftliche Vorarbeit, jene physikalische, chemische, anatomische Analyse. Der Unter- schied des Begreifens und Anschauens ist nicht der, daß diesem das Allge- meine verschlossen, jenem offen wäre, sondern daß jenes auf begründete, durch Trennung, Entgegensetzung und Wiedervereinigung vermittelte und in Bewußtsein des Bewußtseins erhobene Weise dasselbe Allgemeine im Einzelnen hat, wie dieses auf gefundene, unmittelbare und einfach bewußte. Allein die Anschauung erfaßt jedes Einzelne nur in der Trübung durch den störenden Zufall, den wir als überall und immer herrschenden schon kennen. Das Begreifen begreift auch diesen in seiner Nothwendigkeit und in seiner unendlichen Aufhebung (§. 52). Die Anschauung aber über- schaut nicht den unendlichen Gang dieser Aufhebung. Der Geist soll auf dem Wege, den sie betreten, ein diesem Wege eigenes Mittel finden, die Trübung auszuscheiden. Die Anschauung als solche hat dieses Mittel
die theoretiſche Auflöſung; jene eine Zerſtörung des Körpers, um ihn ſtoffartig zu genießen, oder aus Haß, um ihm Schmerzen zu bereiten, dieſe eine anatomiſche, chemiſche u. ſ. w., um ihn zu erkennen. Daß uns die erſtere den Gegenſtand als Ausdruck ſeines Weſens zeige, wird Niemand behaupten; denn nur zufällig legt ſie dieſe oder jene Theile des inneren Baues blos; die andere aber iſt mit ihrer Erkenntniß nicht früher fertig, als bis ſie alle Theile blos gelegt, durchſucht, dann in ihrer Zuſammenwirkung begriffen, alſo die aufgelöste Geſtalt ſich wieder aufge- baut hat; dann erkennt ſie auf begriffsmäßigem Wege, daß dieſer Bau allerdings auf ſeiner Geſammtoberfläche eben das ausdrückt, was er iſt. In dieſer Schlußerkenntniß hat ſie alſo auf vermittelte Weiſe präſent, was die Anſchanung (ein Act des wirklichen, aber ungetheilten Geiſtes) auf unmittelbare Weiſe präſent hat. Vergleicht man aber die Anſchauung nicht mit dieſer Schlußerkenntniß, ſondern mit der einzelnen Erkenntniß einzelner Theile der aufgelösten Geſtalt, ſo iſt ſie vollkommener, als dieſe, denn ſie hat den Geſammt-Ausdruck des Weſens vor ſich, dieſe nicht; mit Recht ſchaudert ſie daher vor der Auflöſung, abgeſehen von ihrem Endziele, als vor einem Grauſenhaften. Künſtler ſtudiren Anatomie, Perſpective u. ſ. w., um ſie wieder zu vergeſſen, d. h. um das Einzelne der Erkenntniß als ein verſchwindendes Mittel in den Inſtinct der Ge- ſammt-Anſchauung zurückzuführen. Soweit hätten wir alſo ſchon in der Anſchauung den reinen Schein, den Ausdruck des Weſens in der Ge- ſammtwirkung der Oberfläche (§. 54). Allein nun erfaßt die An- ſchauung das Einzelne in ſeinem unmittelbaren Daſein. Sie erfaßt es zwar, indem ſie es als Ausdruck ſeines Weſens erfaßt, zugleich als In- dividuum ſeiner Gattung, ſie bekommt die Idee mit. Das Allgemeine im Einzelnen, das Einzelne als Wirklichkeit des Allgemeinen zu faſſen, dazu gehört ſo wenig die abſtracte Begriffsbildung, als ihre naturwiſſenſchaftliche Vorarbeit, jene phyſikaliſche, chemiſche, anatomiſche Analyſe. Der Unter- ſchied des Begreifens und Anſchauens iſt nicht der, daß dieſem das Allge- meine verſchloſſen, jenem offen wäre, ſondern daß jenes auf begründete, durch Trennung, Entgegenſetzung und Wiedervereinigung vermittelte und in Bewußtſein des Bewußtſeins erhobene Weiſe daſſelbe Allgemeine im Einzelnen hat, wie dieſes auf gefundene, unmittelbare und einfach bewußte. Allein die Anſchauung erfaßt jedes Einzelne nur in der Trübung durch den ſtörenden Zufall, den wir als überall und immer herrſchenden ſchon kennen. Das Begreifen begreift auch dieſen in ſeiner Nothwendigkeit und in ſeiner unendlichen Aufhebung (§. 52). Die Anſchauung aber über- ſchaut nicht den unendlichen Gang dieſer Aufhebung. Der Geiſt ſoll auf dem Wege, den ſie betreten, ein dieſem Wege eigenes Mittel finden, die Trübung auszuſcheiden. Die Anſchauung als ſolche hat dieſes Mittel
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die theoretiſche Auflöſung; jene eine Zerſtörung des Körpers, um ihn
ſtoffartig zu genießen, oder aus Haß, um ihm Schmerzen zu bereiten,
dieſe eine anatomiſche, chemiſche u. ſ. w., um ihn zu erkennen. Daß
uns die erſtere den Gegenſtand als Ausdruck ſeines Weſens zeige, wird
Niemand behaupten; denn nur zufällig legt ſie dieſe oder jene Theile
des inneren Baues blos; die andere aber iſt mit ihrer Erkenntniß nicht
früher fertig, als bis ſie alle Theile blos gelegt, durchſucht, dann in ihrer
Zuſammenwirkung begriffen, alſo die aufgelöste Geſtalt ſich wieder aufge-
baut hat; dann erkennt ſie auf begriffsmäßigem Wege, daß dieſer Bau
allerdings auf ſeiner Geſammtoberfläche eben das ausdrückt, was er iſt.
In dieſer Schlußerkenntniß hat ſie alſo auf vermittelte Weiſe präſent,
was die Anſchanung (ein Act des wirklichen, aber ungetheilten Geiſtes)
auf unmittelbare Weiſe präſent hat. Vergleicht man aber die Anſchauung
nicht mit dieſer Schlußerkenntniß, ſondern mit der einzelnen Erkenntniß
einzelner Theile der aufgelösten Geſtalt, ſo iſt ſie vollkommener, als
dieſe, denn ſie hat den Geſammt-Ausdruck des Weſens vor ſich, dieſe
nicht; mit Recht ſchaudert ſie daher vor der Auflöſung, abgeſehen von
ihrem Endziele, als vor einem Grauſenhaften. Künſtler ſtudiren Anatomie,
Perſpective u. ſ. w., um ſie wieder zu vergeſſen, d. h. um das Einzelne
der Erkenntniß als ein verſchwindendes Mittel in den Inſtinct der Ge-
ſammt-Anſchauung zurückzuführen. Soweit hätten wir alſo ſchon in der
Anſchauung den reinen Schein, den Ausdruck des Weſens in der Ge-
ſammtwirkung der Oberfläche (§. 54). Allein nun erfaßt die An-
ſchauung das Einzelne in ſeinem unmittelbaren Daſein. Sie erfaßt es
zwar, indem ſie es als Ausdruck ſeines Weſens erfaßt, zugleich als In-
dividuum ſeiner Gattung, ſie bekommt die Idee mit. Das Allgemeine im
Einzelnen, das Einzelne als Wirklichkeit des Allgemeinen zu faſſen, dazu
gehört ſo wenig die abſtracte Begriffsbildung, als ihre naturwiſſenſchaftliche
Vorarbeit, jene phyſikaliſche, chemiſche, anatomiſche Analyſe. Der Unter-
ſchied des Begreifens und Anſchauens iſt nicht der, daß dieſem das Allge-
meine verſchloſſen, jenem offen wäre, ſondern daß jenes auf begründete,
durch Trennung, Entgegenſetzung und Wiedervereinigung vermittelte und
in Bewußtſein des Bewußtſeins erhobene Weiſe daſſelbe Allgemeine im
Einzelnen hat, wie dieſes auf gefundene, unmittelbare und einfach bewußte.
Allein die Anſchauung erfaßt jedes Einzelne nur in der Trübung durch
den ſtörenden Zufall, den wir als überall und immer herrſchenden ſchon
kennen. Das Begreifen begreift auch dieſen in ſeiner Nothwendigkeit und
in ſeiner unendlichen Aufhebung (§. 52). Die Anſchauung aber über-
ſchaut nicht den unendlichen Gang dieſer Aufhebung. Der Geiſt ſoll auf
dem Wege, den ſie betreten, ein dieſem Wege eigenes Mittel finden,
die Trübung auszuſcheiden. Die Anſchauung als ſolche hat dieſes Mittel
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/36>, abgerufen am 08.07.2024.
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