Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

Ist aber das Schicksal in den Menschen gestiegen, so kann auch der Humor
seine Tiefen entfesseln.

§. 473.

Unter den romanischen Völkern steigern sich die Italiener, unfähig,
sich von der Mythenwelt zu befreien, in eine empfindsam gereizte, gewaltsam
schwülstige, subjectiv willkührliche Anschauung ihrer ausgelebten Stoffe und be-
wahren im Allgemeinen nur den Beruf, antike Formen für eine andere, schö-
pferische Verwendung in die moderne Phantasie herüberzuleiten. Neu sind sie
nur in der eigentlich empfindenden Phantasie und in der Einführung derselben
als Auffassung landschaftlicher Schönheit in die bildende; in beiden Sphären
aber weisen sie durch objective Behandlung auf das antike Ideal zurück.

In diesen Zügen wird man richtig den Charakter der italienischen
Kunst im späteren sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert auf seine innere
Stimmung und Anschauung zurückgeführt finden. Positiv thätig ist dieses
Volk für das innere Ideal nur in der Musik und Landschaftmalerei ge-
wesen. Jene hatte als geistliche zunächst die einfache objective Großar-
tigkeit ohne individuelle Entfaltung des subjectiven Lebens (Palestrina);
als weltliche, als Oper hieng sie sich an mythische Stoffe, wurde natür-
lich reicher in der Darstellung des Gefühlslebens, blieb aber vorherrschend
sinnlich lebhaft und verzichtete auf die tieferen Kämpfe des subjectiven
Geistes; üppig diente sie dem fürstlichen Luxus. Die Landschaft (beide
Poussin können wir zur italienischen Kunstgeschichte rechnen) war zwar
ein offenbarer Durchbruch dieser neuen subjectiven Belebung in der bil-
denden Phantasie, hielt sich aber objectiv an das Große und Allgemeine,
vorzüglich in den Erdformen, ließ die individuelle örtliche Physiognomie
aus ihrem Ideale aus und bewies durch mythische Staffage, daß sie sich
noch nicht ganz als selbständiger Zweig ausgebildet, noch nicht von dem
objectiven Ideal des Alterthums völlig befreit hatte. Den Zustand der
übrigen Künste schildert der Anfang des §. Die Italiener vermitteln vor-
züglich in der Baukunst antike Formen für das moderne Ideal; aber nicht
in der Gestalt, wie sie dieselben bewahrten und wie sie besonders in Ma-
lerei und Sculptur ihr reineres Formgefühl zum Träger des üppig ent-
zündeten Reizes, der nervösen Aufregung, der Heftigkeit und Gewaltsamkeit
machten, sollten sie fruchtbar in das moderne Ideal herüberwirken. Sie
sind es hauptsächlich, die dem restaurirten Katholizismus dienten, den Ro-
koko einführten; ihr großes Talent kann den tiefen Verfall nicht mehr
aufhalten, der sich vorzüglich darin ausspricht, daß sie manirirt, subjectiv,
lüstern, kokett die mythischen Stoffe des Alterthums und des Mittelalters

33*

Iſt aber das Schickſal in den Menſchen geſtiegen, ſo kann auch der Humor
ſeine Tiefen entfeſſeln.

§. 473.

Unter den romaniſchen Völkern ſteigern ſich die Italiener, unfähig,
ſich von der Mythenwelt zu befreien, in eine empfindſam gereizte, gewaltſam
ſchwülſtige, ſubjectiv willkührliche Anſchauung ihrer ausgelebten Stoffe und be-
wahren im Allgemeinen nur den Beruf, antike Formen für eine andere, ſchö-
pferiſche Verwendung in die moderne Phantaſie herüberzuleiten. Neu ſind ſie
nur in der eigentlich empfindenden Phantaſie und in der Einführung derſelben
als Auffaſſung landſchaftlicher Schönheit in die bildende; in beiden Sphären
aber weiſen ſie durch objective Behandlung auf das antike Ideal zurück.

In dieſen Zügen wird man richtig den Charakter der italieniſchen
Kunſt im ſpäteren ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhundert auf ſeine innere
Stimmung und Anſchauung zurückgeführt finden. Poſitiv thätig iſt dieſes
Volk für das innere Ideal nur in der Muſik und Landſchaftmalerei ge-
weſen. Jene hatte als geiſtliche zunächſt die einfache objective Großar-
tigkeit ohne individuelle Entfaltung des ſubjectiven Lebens (Paleſtrina);
als weltliche, als Oper hieng ſie ſich an mythiſche Stoffe, wurde natür-
lich reicher in der Darſtellung des Gefühlslebens, blieb aber vorherrſchend
ſinnlich lebhaft und verzichtete auf die tieferen Kämpfe des ſubjectiven
Geiſtes; üppig diente ſie dem fürſtlichen Luxus. Die Landſchaft (beide
Pouſſin können wir zur italieniſchen Kunſtgeſchichte rechnen) war zwar
ein offenbarer Durchbruch dieſer neuen ſubjectiven Belebung in der bil-
denden Phantaſie, hielt ſich aber objectiv an das Große und Allgemeine,
vorzüglich in den Erdformen, ließ die individuelle örtliche Phyſiognomie
aus ihrem Ideale aus und bewies durch mythiſche Staffage, daß ſie ſich
noch nicht ganz als ſelbſtändiger Zweig ausgebildet, noch nicht von dem
objectiven Ideal des Alterthums völlig befreit hatte. Den Zuſtand der
übrigen Künſte ſchildert der Anfang des §. Die Italiener vermitteln vor-
züglich in der Baukunſt antike Formen für das moderne Ideal; aber nicht
in der Geſtalt, wie ſie dieſelben bewahrten und wie ſie beſonders in Ma-
lerei und Sculptur ihr reineres Formgefühl zum Träger des üppig ent-
zündeten Reizes, der nervöſen Aufregung, der Heftigkeit und Gewaltſamkeit
machten, ſollten ſie fruchtbar in das moderne Ideal herüberwirken. Sie
ſind es hauptſächlich, die dem reſtaurirten Katholiziſmus dienten, den Ro-
koko einführten; ihr großes Talent kann den tiefen Verfall nicht mehr
aufhalten, der ſich vorzüglich darin ausſpricht, daß ſie manirirt, ſubjectiv,
lüſtern, kokett die mythiſchen Stoffe des Alterthums und des Mittelalters

33*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0223" n="509"/>
I&#x017F;t aber das Schick&#x017F;al in den Men&#x017F;chen ge&#x017F;tiegen, &#x017F;o kann auch der Humor<lb/>
&#x017F;eine Tiefen entfe&#x017F;&#x017F;eln.</hi> </p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 473.</head><lb/>
                  <p> <hi rendition="#fr">Unter den <hi rendition="#g">romani&#x017F;chen</hi> Völkern &#x017F;teigern &#x017F;ich die <hi rendition="#g">Italiener</hi>, unfähig,<lb/>
&#x017F;ich von der Mythenwelt zu befreien, in eine empfind&#x017F;am gereizte, gewalt&#x017F;am<lb/>
&#x017F;chwül&#x017F;tige, &#x017F;ubjectiv willkührliche An&#x017F;chauung ihrer ausgelebten Stoffe und be-<lb/>
wahren im Allgemeinen nur den Beruf, antike Formen für eine andere, &#x017F;chö-<lb/>
pferi&#x017F;che Verwendung in die moderne Phanta&#x017F;ie herüberzuleiten. Neu &#x017F;ind &#x017F;ie<lb/>
nur in der eigentlich empfindenden Phanta&#x017F;ie und in der Einführung der&#x017F;elben<lb/>
als Auffa&#x017F;&#x017F;ung land&#x017F;chaftlicher Schönheit in die bildende; in beiden Sphären<lb/>
aber wei&#x017F;en &#x017F;ie durch objective Behandlung auf das antike Ideal zurück.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">In die&#x017F;en Zügen wird man richtig den Charakter der italieni&#x017F;chen<lb/>
Kun&#x017F;t im &#x017F;päteren &#x017F;echzehnten und &#x017F;iebzehnten Jahrhundert auf &#x017F;eine innere<lb/>
Stimmung und An&#x017F;chauung zurückgeführt finden. Po&#x017F;itiv thätig i&#x017F;t die&#x017F;es<lb/>
Volk für das innere Ideal nur in der Mu&#x017F;ik und Land&#x017F;chaftmalerei ge-<lb/>
we&#x017F;en. Jene hatte als gei&#x017F;tliche zunäch&#x017F;t die einfache objective Großar-<lb/>
tigkeit ohne individuelle Entfaltung des &#x017F;ubjectiven Lebens (Pale&#x017F;trina);<lb/>
als weltliche, als Oper hieng &#x017F;ie &#x017F;ich an mythi&#x017F;che Stoffe, wurde natür-<lb/>
lich reicher in der Dar&#x017F;tellung des Gefühlslebens, blieb aber vorherr&#x017F;chend<lb/>
&#x017F;innlich lebhaft und verzichtete auf die tieferen Kämpfe des &#x017F;ubjectiven<lb/>
Gei&#x017F;tes; üppig diente &#x017F;ie dem für&#x017F;tlichen Luxus. Die Land&#x017F;chaft (beide<lb/>
Pou&#x017F;&#x017F;in können wir zur italieni&#x017F;chen Kun&#x017F;tge&#x017F;chichte rechnen) war zwar<lb/>
ein offenbarer Durchbruch die&#x017F;er neuen &#x017F;ubjectiven Belebung in der bil-<lb/>
denden Phanta&#x017F;ie, hielt &#x017F;ich aber objectiv an das Große und Allgemeine,<lb/>
vorzüglich in den Erdformen, ließ die individuelle örtliche Phy&#x017F;iognomie<lb/>
aus ihrem Ideale aus und bewies durch mythi&#x017F;che Staffage, daß &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
noch nicht ganz als &#x017F;elb&#x017F;tändiger Zweig ausgebildet, noch nicht von dem<lb/>
objectiven Ideal des Alterthums völlig befreit hatte. Den Zu&#x017F;tand der<lb/>
übrigen Kün&#x017F;te &#x017F;childert der Anfang des §. Die Italiener vermitteln vor-<lb/>
züglich in der Baukun&#x017F;t antike Formen für das moderne Ideal; aber nicht<lb/>
in der Ge&#x017F;talt, wie &#x017F;ie die&#x017F;elben bewahrten und wie &#x017F;ie be&#x017F;onders in Ma-<lb/>
lerei und Sculptur ihr reineres Formgefühl zum Träger des üppig ent-<lb/>
zündeten Reizes, der nervö&#x017F;en Aufregung, der Heftigkeit und Gewalt&#x017F;amkeit<lb/>
machten, &#x017F;ollten &#x017F;ie fruchtbar in das moderne Ideal herüberwirken. Sie<lb/>
&#x017F;ind es haupt&#x017F;ächlich, die dem re&#x017F;taurirten Katholizi&#x017F;mus dienten, den Ro-<lb/>
koko einführten; ihr großes Talent kann den tiefen Verfall nicht mehr<lb/>
aufhalten, der &#x017F;ich vorzüglich darin aus&#x017F;pricht, daß &#x017F;ie manirirt, &#x017F;ubjectiv,<lb/>&#x017F;tern, kokett die mythi&#x017F;chen Stoffe des Alterthums und des Mittelalters</hi><lb/>
                    <fw place="bottom" type="sig">33*</fw><lb/>
                  </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[509/0223] Iſt aber das Schickſal in den Menſchen geſtiegen, ſo kann auch der Humor ſeine Tiefen entfeſſeln. §. 473. Unter den romaniſchen Völkern ſteigern ſich die Italiener, unfähig, ſich von der Mythenwelt zu befreien, in eine empfindſam gereizte, gewaltſam ſchwülſtige, ſubjectiv willkührliche Anſchauung ihrer ausgelebten Stoffe und be- wahren im Allgemeinen nur den Beruf, antike Formen für eine andere, ſchö- pferiſche Verwendung in die moderne Phantaſie herüberzuleiten. Neu ſind ſie nur in der eigentlich empfindenden Phantaſie und in der Einführung derſelben als Auffaſſung landſchaftlicher Schönheit in die bildende; in beiden Sphären aber weiſen ſie durch objective Behandlung auf das antike Ideal zurück. In dieſen Zügen wird man richtig den Charakter der italieniſchen Kunſt im ſpäteren ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhundert auf ſeine innere Stimmung und Anſchauung zurückgeführt finden. Poſitiv thätig iſt dieſes Volk für das innere Ideal nur in der Muſik und Landſchaftmalerei ge- weſen. Jene hatte als geiſtliche zunächſt die einfache objective Großar- tigkeit ohne individuelle Entfaltung des ſubjectiven Lebens (Paleſtrina); als weltliche, als Oper hieng ſie ſich an mythiſche Stoffe, wurde natür- lich reicher in der Darſtellung des Gefühlslebens, blieb aber vorherrſchend ſinnlich lebhaft und verzichtete auf die tieferen Kämpfe des ſubjectiven Geiſtes; üppig diente ſie dem fürſtlichen Luxus. Die Landſchaft (beide Pouſſin können wir zur italieniſchen Kunſtgeſchichte rechnen) war zwar ein offenbarer Durchbruch dieſer neuen ſubjectiven Belebung in der bil- denden Phantaſie, hielt ſich aber objectiv an das Große und Allgemeine, vorzüglich in den Erdformen, ließ die individuelle örtliche Phyſiognomie aus ihrem Ideale aus und bewies durch mythiſche Staffage, daß ſie ſich noch nicht ganz als ſelbſtändiger Zweig ausgebildet, noch nicht von dem objectiven Ideal des Alterthums völlig befreit hatte. Den Zuſtand der übrigen Künſte ſchildert der Anfang des §. Die Italiener vermitteln vor- züglich in der Baukunſt antike Formen für das moderne Ideal; aber nicht in der Geſtalt, wie ſie dieſelben bewahrten und wie ſie beſonders in Ma- lerei und Sculptur ihr reineres Formgefühl zum Träger des üppig ent- zündeten Reizes, der nervöſen Aufregung, der Heftigkeit und Gewaltſamkeit machten, ſollten ſie fruchtbar in das moderne Ideal herüberwirken. Sie ſind es hauptſächlich, die dem reſtaurirten Katholiziſmus dienten, den Ro- koko einführten; ihr großes Talent kann den tiefen Verfall nicht mehr aufhalten, der ſich vorzüglich darin ausſpricht, daß ſie manirirt, ſubjectiv, lüſtern, kokett die mythiſchen Stoffe des Alterthums und des Mittelalters 33*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/223
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 509. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/223>, abgerufen am 18.12.2024.