Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.1. Dieß widerspricht keineswegs dem, was der vorhergehende §. cum 2. Dieß beständige Fortgehen über die Grenze ist nothwendig zugleich §. 456. Doch nicht alle Härte wird dadurch aufgehoben, denn nicht nur muß sich 1. Dieß widerſpricht keineswegs dem, was der vorhergehende §. cum 2. Dieß beſtändige Fortgehen über die Grenze iſt nothwendig zugleich §. 456. Doch nicht alle Härte wird dadurch aufgehoben, denn nicht nur muß ſich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <pb facs="#f0198" n="484"/> <p> <hi rendition="#et">1. Dieß widerſpricht keineswegs dem, was der vorhergehende §. <hi rendition="#aq">cum<lb/> grano salis</hi> eine mikroſkopiſche Behandlung nannte. Die kleinen Züge,<lb/> das Mienenſpiel der verborgenen Gefühle, der harte Stempel der Indi-<lb/> vidualität, das Alles kann ſeinen beſtimmten und deutlichen Ausdruck ha-<lb/> ben, aber zugleich ſchimmert, ſpielt, ſcheint ein bewegtes Licht über das<lb/> Ganze hin, das dem Beſchauer nicht erlaubt, bei der Schärfe und Härte<lb/> dieſer Ausladungen zu verweilen, ſondern ihn fort und weiter führt, ein<lb/> hindurch- und überſchwebender Geiſt, in welchen die Grenzen der Geſtalt<lb/> beſtändig ſich verhauchen. Dieſer Geiſt iſt zunächſt der Ausdruck des un-<lb/> endlich allgemeinen und doch eigenen Seelenlebens des einzelnen In-<lb/> dividuums.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Dieß beſtändige Fortgehen über die Grenze iſt nothwendig zugleich<lb/> Fortgehen von einem Individuum zu mehreren und von den Individuen<lb/> zu ihrer weitern räumlichen, natürlichen Umgebung. So wie die Götter<lb/> des Mittelalters den eingeſogenen Weltgehalt in gemüthvoller Continuität<lb/> weiter geben, ſo iſt auch den Menſchen der Eine Geiſt frei und ſchran-<lb/> kenlos gegeben, ſtrömt durch Alle, ja die Täuſchung, als ſei im Gottes-<lb/> ſohne die Menſchheit erſchöpft, verbeſſert ſich in die Gewißheit, daß nur<lb/> das Menſchengeſchlecht der Sohn Gottes iſt. Die Thüre iſt offen und<lb/> die Schaaren der Menſchheit, in welcher der Einzelne und ebendaher ein<lb/> Jeder und ebendaher nur Alle zuſammen eine Welt ſind, treten in langen<lb/> Zügen in das Schöne herein und dürfen, demokratiſch berechtigt, an die<lb/> einzelne Handlung ſo viele Betheiligte abgeben, als die Phantaſie nur<lb/> immer in einem Acte beſtimmter Anſchauung zu umſpannen vermag.<lb/> Jener fließende Geiſt geht alſo hinüber vom Einen zum Andern, umfaßt<lb/> eine Gruppe zugleich Dargeſtellter, deren Unſchönheiten in wechſelſeitiger<lb/> Ergänzung ihrer Schönheiten zuſammenfließen in eine Geſammtbeleuchtung,<lb/> deren Magie uns über die Unebenheiten, die Knorren und Ecken der här-<lb/> teren Eigenheit, die Mienen, deren kleines Spiel nahe an die Grenze<lb/> geht, wo das Individuelle keine allgemeine Bedeutung mehr zu haben<lb/> ſcheint, ſchwebend hinwegführt.</hi> </p> </div><lb/> <div n="5"> <head>§. 456.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Doch nicht alle Härte wird dadurch aufgehoben, denn nicht nur muß ſich<lb/> unwillkührlich das Mißverhältniß zwiſchen Form und Gehalt, woran das Mit-<lb/> telalter überhaupt leidet (§. 354 ff.), als bleibender Bruch auch in ſeiner<lb/> Phantaſie ſpiegeln, ſondern ſie ſetzt auch ausdrücklich Kreuzigung des Fleiſches<lb/> bis zu peinlicher Häßlichkeit, Gedrücktheit und Weltloſigkeit der Erſcheinung<lb/> als Bedingung der Idealität. Auch in dieſem Ideal herrſcht alſo eine Ariſto-<lb/> kratie der Geſtalt durch die Ausſchließlichkeit aſcetiſchen Ausdrucks.</hi> </p><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [484/0198]
1. Dieß widerſpricht keineswegs dem, was der vorhergehende §. cum
grano salis eine mikroſkopiſche Behandlung nannte. Die kleinen Züge,
das Mienenſpiel der verborgenen Gefühle, der harte Stempel der Indi-
vidualität, das Alles kann ſeinen beſtimmten und deutlichen Ausdruck ha-
ben, aber zugleich ſchimmert, ſpielt, ſcheint ein bewegtes Licht über das
Ganze hin, das dem Beſchauer nicht erlaubt, bei der Schärfe und Härte
dieſer Ausladungen zu verweilen, ſondern ihn fort und weiter führt, ein
hindurch- und überſchwebender Geiſt, in welchen die Grenzen der Geſtalt
beſtändig ſich verhauchen. Dieſer Geiſt iſt zunächſt der Ausdruck des un-
endlich allgemeinen und doch eigenen Seelenlebens des einzelnen In-
dividuums.
2. Dieß beſtändige Fortgehen über die Grenze iſt nothwendig zugleich
Fortgehen von einem Individuum zu mehreren und von den Individuen
zu ihrer weitern räumlichen, natürlichen Umgebung. So wie die Götter
des Mittelalters den eingeſogenen Weltgehalt in gemüthvoller Continuität
weiter geben, ſo iſt auch den Menſchen der Eine Geiſt frei und ſchran-
kenlos gegeben, ſtrömt durch Alle, ja die Täuſchung, als ſei im Gottes-
ſohne die Menſchheit erſchöpft, verbeſſert ſich in die Gewißheit, daß nur
das Menſchengeſchlecht der Sohn Gottes iſt. Die Thüre iſt offen und
die Schaaren der Menſchheit, in welcher der Einzelne und ebendaher ein
Jeder und ebendaher nur Alle zuſammen eine Welt ſind, treten in langen
Zügen in das Schöne herein und dürfen, demokratiſch berechtigt, an die
einzelne Handlung ſo viele Betheiligte abgeben, als die Phantaſie nur
immer in einem Acte beſtimmter Anſchauung zu umſpannen vermag.
Jener fließende Geiſt geht alſo hinüber vom Einen zum Andern, umfaßt
eine Gruppe zugleich Dargeſtellter, deren Unſchönheiten in wechſelſeitiger
Ergänzung ihrer Schönheiten zuſammenfließen in eine Geſammtbeleuchtung,
deren Magie uns über die Unebenheiten, die Knorren und Ecken der här-
teren Eigenheit, die Mienen, deren kleines Spiel nahe an die Grenze
geht, wo das Individuelle keine allgemeine Bedeutung mehr zu haben
ſcheint, ſchwebend hinwegführt.
§. 456.
Doch nicht alle Härte wird dadurch aufgehoben, denn nicht nur muß ſich
unwillkührlich das Mißverhältniß zwiſchen Form und Gehalt, woran das Mit-
telalter überhaupt leidet (§. 354 ff.), als bleibender Bruch auch in ſeiner
Phantaſie ſpiegeln, ſondern ſie ſetzt auch ausdrücklich Kreuzigung des Fleiſches
bis zu peinlicher Häßlichkeit, Gedrücktheit und Weltloſigkeit der Erſcheinung
als Bedingung der Idealität. Auch in dieſem Ideal herrſcht alſo eine Ariſto-
kratie der Geſtalt durch die Ausſchließlichkeit aſcetiſchen Ausdrucks.
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