Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
und daher in die Theilnahme an dem absoluten Werthe der Persönlichkeit zieht. Der Geist der Selbstüberwindung verzehrt das Behagen des Fleisches, §. 455. Wenn nun dadurch ein allzuweiter Umfang störender Abweichungen in1
und daher in die Theilnahme an dem abſoluten Werthe der Perſönlichkeit zieht. Der Geiſt der Selbſtüberwindung verzehrt das Behagen des Fleiſches, §. 455. Wenn nun dadurch ein allzuweiter Umfang ſtörender Abweichungen in1 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0197" n="483"/> und daher in die Theilnahme an dem abſoluten Werthe der Perſönlichkeit zieht.<lb/> In dieſem Sinne iſt allerdings die Ariſtokratie der Geſtalt (§. 62) aufgehoben<lb/> und durch ungleich weitere Aufnahme der vom Gattungstypus abweichenden<lb/> Züge dringt eine porträtartige, mikroſkopiſche Auffaſſung ein. Es folgt daraus,<lb/> daß weniger die ganze Geſtalt, als die vorzüglich ſprechenden Theile derſelben<lb/> von dieſer <hi rendition="#g">phyſiognomiſchen</hi> Behandlungsweiſe als Sitz der Schönheit her-<lb/> vorgeſtellt werden.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Der Geiſt der Selbſtüberwindung verzehrt das Behagen des Fleiſches,<lb/> den Eigenwillen, läßt aber im ausgebrannten Leibe die ſcharfen Züge der<lb/> unendlichen Eigenheit, das Knochengerüſte der Individualität ſtehen, und<lb/> wie in der Geſtalt, ſo im Innern. Sie ſind jetzt berechtigt, weil „<hi rendition="#g">Alle</hi> erlöst,<lb/> theuer erkauft ſind“, weil ganz der Einzelne ſich als Gefäß des Unendlichen<lb/> wiſſen darf; ſie zählen poſitiv mit, ja ihre Adſtriction iſt eben die con-<lb/> centrirte Perſönlichkeit ſelbſt. Sofern nun unter jener Ariſtokratie der<lb/> Geſtalt der ſtreng gemeſſene Gattungstypus der griechiſchen Phantaſie<lb/> verſtanden wird, der die individuellen Züge nur ſoweit zuläßt, als ſie<lb/> die zarte Schwelle, jenſeits welcher die ſcharf in ſich zuſammengefaßte<lb/> Emanzipation liegt, nicht überſchreitet, ſo iſt dieſelbe verſchwunden. In<lb/> anderem Sinne aber dauert ſie, wie wir ſehen werden, fort. Die Geſtalt<lb/> mag nun trocken, hart, eckig, ſelbſt armſelig ſein: Hände und Angeſicht,<lb/> am meiſten das Auge widerlegen ſie durch die Unendlichkeit des Ausdrucks,<lb/> in welchem das Eigenſte und das Allgemeinſte, der kleine Menſch und<lb/> der Himmel (aber auch die Hölle) zu Einer Wirkung aufgehen. Das<lb/> Phyſiognomiſche tritt jetzt erſt in ſeiner ganzen Bedeutung ein, wie über-<lb/> haupt alle die Momente, welche in der Darſtellung des Individuums als<lb/> Stoff §. 331—340 aufgeführt wurden, ſoweit ſie nämlich der tiefer in<lb/> ſich zuſammengefaßten Welt der Individualität, aber noch nicht dem welt-<lb/> lich frei gebildeten und zur Mündigkeit erwachſenen Charakter angehören;<lb/> denn dieſen kennt das eigentliche Mittelalter noch nicht.</hi> </p> </div><lb/> <div n="5"> <head>§. 455.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Wenn nun dadurch ein allzuweiter Umfang ſtörender Abweichungen in<note place="right">1</note><lb/> das Schöne einzudringen ſcheint, ſo hebt ſich dieß vor Allem eben dadurch auf,<lb/> daß dieß Phantaſiegebilde die Anſchauung nöthigt, in ſteter Bewegung von jenen<lb/> auf das unendlich werthvolle Innere überzugehen, indem die Umriſſe in den<lb/> Ausdruck der Innerlichkeit verſchwimmen und verzittern; aber auch dadurch,<note place="right">2</note><lb/> daß in dieſem Ideale <hi rendition="#g">nicht mehr die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß</hi><lb/> (vergl. §. 437), ſondern die Unebenheiten dieſer in der Geſammtwirkung, welche<lb/> in einem äſthetiſchen Ganzen Viele vereinigt, ſich ergänzen.</hi> </p><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [483/0197]
und daher in die Theilnahme an dem abſoluten Werthe der Perſönlichkeit zieht.
In dieſem Sinne iſt allerdings die Ariſtokratie der Geſtalt (§. 62) aufgehoben
und durch ungleich weitere Aufnahme der vom Gattungstypus abweichenden
Züge dringt eine porträtartige, mikroſkopiſche Auffaſſung ein. Es folgt daraus,
daß weniger die ganze Geſtalt, als die vorzüglich ſprechenden Theile derſelben
von dieſer phyſiognomiſchen Behandlungsweiſe als Sitz der Schönheit her-
vorgeſtellt werden.
Der Geiſt der Selbſtüberwindung verzehrt das Behagen des Fleiſches,
den Eigenwillen, läßt aber im ausgebrannten Leibe die ſcharfen Züge der
unendlichen Eigenheit, das Knochengerüſte der Individualität ſtehen, und
wie in der Geſtalt, ſo im Innern. Sie ſind jetzt berechtigt, weil „Alle erlöst,
theuer erkauft ſind“, weil ganz der Einzelne ſich als Gefäß des Unendlichen
wiſſen darf; ſie zählen poſitiv mit, ja ihre Adſtriction iſt eben die con-
centrirte Perſönlichkeit ſelbſt. Sofern nun unter jener Ariſtokratie der
Geſtalt der ſtreng gemeſſene Gattungstypus der griechiſchen Phantaſie
verſtanden wird, der die individuellen Züge nur ſoweit zuläßt, als ſie
die zarte Schwelle, jenſeits welcher die ſcharf in ſich zuſammengefaßte
Emanzipation liegt, nicht überſchreitet, ſo iſt dieſelbe verſchwunden. In
anderem Sinne aber dauert ſie, wie wir ſehen werden, fort. Die Geſtalt
mag nun trocken, hart, eckig, ſelbſt armſelig ſein: Hände und Angeſicht,
am meiſten das Auge widerlegen ſie durch die Unendlichkeit des Ausdrucks,
in welchem das Eigenſte und das Allgemeinſte, der kleine Menſch und
der Himmel (aber auch die Hölle) zu Einer Wirkung aufgehen. Das
Phyſiognomiſche tritt jetzt erſt in ſeiner ganzen Bedeutung ein, wie über-
haupt alle die Momente, welche in der Darſtellung des Individuums als
Stoff §. 331—340 aufgeführt wurden, ſoweit ſie nämlich der tiefer in
ſich zuſammengefaßten Welt der Individualität, aber noch nicht dem welt-
lich frei gebildeten und zur Mündigkeit erwachſenen Charakter angehören;
denn dieſen kennt das eigentliche Mittelalter noch nicht.
§. 455.
Wenn nun dadurch ein allzuweiter Umfang ſtörender Abweichungen in
das Schöne einzudringen ſcheint, ſo hebt ſich dieß vor Allem eben dadurch auf,
daß dieß Phantaſiegebilde die Anſchauung nöthigt, in ſteter Bewegung von jenen
auf das unendlich werthvolle Innere überzugehen, indem die Umriſſe in den
Ausdruck der Innerlichkeit verſchwimmen und verzittern; aber auch dadurch,
daß in dieſem Ideale nicht mehr die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß
(vergl. §. 437), ſondern die Unebenheiten dieſer in der Geſammtwirkung, welche
in einem äſthetiſchen Ganzen Viele vereinigt, ſich ergänzen.
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