Geist ist Poseidon. Der Gott ist nicht eine Devise, auf eine Lebenssphäre geklebt, sondern jener Genius mit Menschengestalt, den schon der Orient in der Naturerscheinung ahnte, aber wie einen unreifen Kern aus harter Schaale nicht herausschälen konnte, ohne ihn zu zerstückeln und mit Trüm- mern der Schaale nothdürftig wieder zusammenzukleben, löst sich heraus, der Gott steht auf den Füßen und fragt nicht mehr nach seiner Herkunft. Er deutet sich selbst, er ist, was er bedeutet, er will es, es ist seine Lei- denschaft, sein Zweck. Sein Hauptzweck ist irgend ein sittliches Pathos, Eid, Gastfreundschaft, Civilisation, Städte- und Staatengründung, Ver- kehr, Handel, Wissen, Kunst; er umfaßt aber deren mehrere, wie Apollo Wissen der Zukunft, Wissen um Geheimnisse der Erkenntniß überhaupt, Gesang und Musik, Offenbarung und Bestrafung verborgener Verbrechen, Zeus Gastfreundschaft, Eid, Vertrag u. s. w., und schon dadurch ist von der Abstraction einer symbolischen Bedeutung die Erweiterung zu einem ganzen und vollen Subjecte gegeben. Allein diesen Hauptzweck hat ihm das Volksbewußtsein darum geliehen, weil es selbst sittlich ist; weil es sitt- lich ist, ist es persönlich und weil es persönlich ist, hat es überhaupt den gan- zen Gott als lebendige Persönlichkeit erdichtet, und so hat dieser Gott alle Zwecke und Bewegungen eines ganzen Menschen. Er kann Alles empfinden, Alles denken, wollen, also auch das, was Hauptzweck anderer Götter ist, nur daß der seinige immer sein Kern bleibt und seine ganze Temperatur bestimmt. Diese Temperatur rührt allerdings zunächst von der Naturgrundlage: der unruhige und wilde Poseidon hat die Stimmung seines Elements, dann aber erscheint er leidenschaftlich bewegt in Interessen der Städtegründung u. s. w. Dieselbe Naturgrundlage setzt sich auch in den Mythus so fort, daß die Götter nicht nur handeln, sondern auch unter dem Gesetze des Werdens stehen, geboren werden, wachsen, leiden, und zwar anders, als Jehovah, von außen nämlich durch andere Götter, durch Menschen selbst bis zur körperlichen Verwundung. Diese Nachwirkung des Symbolischen im My- thischen hebt sich aber, wie wir sehen werden, in der kummerlosen Selig- keit des Ideals wieder auf. Die gröbere Passivität jedoch, deren Symbolik auch in mythischer Behandlung abstoßend bleibt, wie die Verstümmlungen, das Verschlungenwerden u. dergl., wird in die Theogonie zurückverlegt.
2. Was die Ueberwindung der symbolischen Naturreligion überhaupt, die Aufhebung und den Nachklang derselben in diese ethische Phantasie betrifft, so dürfen wir auf Hegel verweisen, der "den Gestaltungsprozeß der classischen Kunstform" so weitläufig behandelt hat (Aesth. Th. 2, S. 24--66). Er zeigt zuerst die Degradation des Thierischen auf, dann wie die Aufhebung der Naturreligion und ihrer hundertarmigen, schlan- genfüßigen Ungeheuer selbst wieder mythisch als ein Kampf der geistigen und sittlichen Götter gegen die finstern Naturmächte in die Vergangenheit
Geiſt iſt Poſeidon. Der Gott iſt nicht eine Deviſe, auf eine Lebensſphäre geklebt, ſondern jener Genius mit Menſchengeſtalt, den ſchon der Orient in der Naturerſcheinung ahnte, aber wie einen unreifen Kern aus harter Schaale nicht herausſchälen konnte, ohne ihn zu zerſtückeln und mit Trüm- mern der Schaale nothdürftig wieder zuſammenzukleben, löst ſich heraus, der Gott ſteht auf den Füßen und fragt nicht mehr nach ſeiner Herkunft. Er deutet ſich ſelbſt, er iſt, was er bedeutet, er will es, es iſt ſeine Lei- denſchaft, ſein Zweck. Sein Hauptzweck iſt irgend ein ſittliches Pathos, Eid, Gaſtfreundſchaft, Civiliſation, Städte- und Staatengründung, Ver- kehr, Handel, Wiſſen, Kunſt; er umfaßt aber deren mehrere, wie Apollo Wiſſen der Zukunft, Wiſſen um Geheimniſſe der Erkenntniß überhaupt, Geſang und Muſik, Offenbarung und Beſtrafung verborgener Verbrechen, Zeus Gaſtfreundſchaft, Eid, Vertrag u. ſ. w., und ſchon dadurch iſt von der Abſtraction einer ſymboliſchen Bedeutung die Erweiterung zu einem ganzen und vollen Subjecte gegeben. Allein dieſen Hauptzweck hat ihm das Volksbewußtſein darum geliehen, weil es ſelbſt ſittlich iſt; weil es ſitt- lich iſt, iſt es perſönlich und weil es perſönlich iſt, hat es überhaupt den gan- zen Gott als lebendige Perſönlichkeit erdichtet, und ſo hat dieſer Gott alle Zwecke und Bewegungen eines ganzen Menſchen. Er kann Alles empfinden, Alles denken, wollen, alſo auch das, was Hauptzweck anderer Götter iſt, nur daß der ſeinige immer ſein Kern bleibt und ſeine ganze Temperatur beſtimmt. Dieſe Temperatur rührt allerdings zunächſt von der Naturgrundlage: der unruhige und wilde Poſeidon hat die Stimmung ſeines Elements, dann aber erſcheint er leidenſchaftlich bewegt in Intereſſen der Städtegründung u. ſ. w. Dieſelbe Naturgrundlage ſetzt ſich auch in den Mythus ſo fort, daß die Götter nicht nur handeln, ſondern auch unter dem Geſetze des Werdens ſtehen, geboren werden, wachſen, leiden, und zwar anders, als Jehovah, von außen nämlich durch andere Götter, durch Menſchen ſelbſt bis zur körperlichen Verwundung. Dieſe Nachwirkung des Symboliſchen im My- thiſchen hebt ſich aber, wie wir ſehen werden, in der kummerloſen Selig- keit des Ideals wieder auf. Die gröbere Paſſivität jedoch, deren Symbolik auch in mythiſcher Behandlung abſtoßend bleibt, wie die Verſtümmlungen, das Verſchlungenwerden u. dergl., wird in die Theogonie zurückverlegt.
2. Was die Ueberwindung der ſymboliſchen Naturreligion überhaupt, die Aufhebung und den Nachklang derſelben in dieſe ethiſche Phantaſie betrifft, ſo dürfen wir auf Hegel verweiſen, der „den Geſtaltungsprozeß der claſſiſchen Kunſtform“ ſo weitläufig behandelt hat (Aeſth. Th. 2, S. 24—66). Er zeigt zuerſt die Degradation des Thieriſchen auf, dann wie die Aufhebung der Naturreligion und ihrer hundertarmigen, ſchlan- genfüßigen Ungeheuer ſelbſt wieder mythiſch als ein Kampf der geiſtigen und ſittlichen Götter gegen die finſtern Naturmächte in die Vergangenheit
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Eid, Gaſtfreundſchaft, Civiliſation, Städte- und Staatengründung, Ver-
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Wiſſen der Zukunft, Wiſſen um Geheimniſſe der Erkenntniß überhaupt,
Geſang und Muſik, Offenbarung und Beſtrafung verborgener Verbrechen,
Zeus Gaſtfreundſchaft, Eid, Vertrag u. ſ. w., und ſchon dadurch iſt von
der Abſtraction einer ſymboliſchen Bedeutung die Erweiterung zu einem
ganzen und vollen Subjecte gegeben. Allein dieſen Hauptzweck hat ihm
das Volksbewußtſein darum geliehen, weil es ſelbſt ſittlich iſt; weil es ſitt-
lich iſt, iſt es perſönlich und weil es perſönlich iſt, hat es überhaupt den gan-
zen Gott als lebendige Perſönlichkeit erdichtet, und ſo hat dieſer Gott alle
Zwecke und Bewegungen eines ganzen Menſchen. Er kann Alles empfinden,
Alles denken, wollen, alſo auch das, was Hauptzweck anderer Götter iſt, nur
daß der ſeinige immer ſein Kern bleibt und ſeine ganze Temperatur beſtimmt.
Dieſe Temperatur rührt allerdings zunächſt von der Naturgrundlage: der
unruhige und wilde Poſeidon hat die Stimmung ſeines Elements, dann aber
erſcheint er leidenſchaftlich bewegt in Intereſſen der Städtegründung u. ſ. w.
Dieſelbe Naturgrundlage ſetzt ſich auch in den Mythus ſo fort, daß die
Götter nicht nur handeln, ſondern auch unter dem Geſetze des Werdens
ſtehen, geboren werden, wachſen, leiden, und zwar anders, als Jehovah,
von außen nämlich durch andere Götter, durch Menſchen ſelbſt bis zur
körperlichen Verwundung. Dieſe Nachwirkung des Symboliſchen im My-
thiſchen hebt ſich aber, wie wir ſehen werden, in der kummerloſen Selig-
keit des Ideals wieder auf. Die gröbere Paſſivität jedoch, deren Symbolik
auch in mythiſcher Behandlung abſtoßend bleibt, wie die Verſtümmlungen,
das Verſchlungenwerden u. dergl., wird in die Theogonie zurückverlegt.
2. Was die Ueberwindung der ſymboliſchen Naturreligion überhaupt,
die Aufhebung und den Nachklang derſelben in dieſe ethiſche Phantaſie
betrifft, ſo dürfen wir auf Hegel verweiſen, der „den Geſtaltungsprozeß
der claſſiſchen Kunſtform“ ſo weitläufig behandelt hat (Aeſth. Th. 2,
S. 24—66). Er zeigt zuerſt die Degradation des Thieriſchen auf, dann
wie die Aufhebung der Naturreligion und ihrer hundertarmigen, ſchlan-
genfüßigen Ungeheuer ſelbſt wieder mythiſch als ein Kampf der geiſtigen
und ſittlichen Götter gegen die finſtern Naturmächte in die Vergangenheit
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/161>, abgerufen am 31.07.2024.
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