Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.zelne Erscheinung zunächst ihre Gattung und durch diese das Ganze der zelne Erſcheinung zunächſt ihre Gattung und durch dieſe das Ganze der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <pb facs="#f0016" n="302"/> <hi rendition="#et">zelne Erſcheinung zunächſt ihre Gattung und durch dieſe das Ganze der<lb/> abſoluten Idee dar. Sie tritt dadurch aus dem unendlichen Zuſammen-<lb/> hang heraus, iſt ein Ausſchnitt derſelben, der jetzt für das Ganze gilt.<lb/> Im breiten, großen Zuſammenhange des unendlich ausgedehnten Ganzen<lb/> ſelbſt ſcheint es zunächſt, als ob in ſeltenen Fällen ein Einzelnes die Feinde,<lb/> die ſich auf ſeine Koſten erhalten wollen, den Druck der Geſammt-Ab-<lb/> hängigkeit ſo abſchütteln könne, daß es für alle Andern ſtehe, die Fülle des<lb/> Alls in ſich zeige, demnach wirklich ſchön ſey. Dieſen Schein nun engen<lb/> wir jetzt zunächſt nur auf einen immer kleineren Punkt ein. Sorgt die<lb/> Natur für Erhaltung und nicht für Schönheit als ſolche, ſo liegt ihr auch<lb/> nichts daran, das ſeltene Schöne, dem ſie Daſein gönnt, feſtzuhalten; das<lb/> Leben geht weiter und fragt nicht nach dem Untergang der Geſtalt oder<lb/> erhält ſie nur nothdürftig. „Die Natur arbeitet auf Leben und Daſein,<lb/> auf Erhaltung und Fortpflanzung ihres Geſchöpfes, unbekümmert, ob es<lb/> ſchön oder häßlich erſcheine. Eine Geſtalt, die von Geburt an ſchön zu<lb/> ſein beſtimmt war, kann durch irgend einen Zufall in Einem Theile ver-<lb/> letzt werden; ſogleich leiden andere Theile mit. Denn nun braucht die<lb/> Natur Kräfte, den verletzten Theil wieder herzuſtellen und ſo wird den<lb/> übrigen etwas entzogen, wodurch ihre Entwicklung durchaus geſtört wer-<lb/> den muß. Das Geſchöpf wird nicht mehr, was es ſein ſollte, ſondern<lb/> was es ſein kann.“ (Göthe zu Diderot). Merklicher oder unmerklicher<lb/> gehen die Verletzungen fort, bis das Ganze aufgerieben iſt. Raſche Ver-<lb/> gänglichkeit iſt die Klage, die alles Naturſchöne umſchwebt. Nicht nur die<lb/> ſchöne Beleuchtung einer Landſchaft, auch die Blüthe des organiſchen Le-<lb/> bens iſt ein Moment. „Genau genommen kann man ſagen, es ſei nur<lb/> ein Augenblick, in welchem der ſchöne Menſch ſchön ſei.“ „Nur äußerſt<lb/> kurze Zeit kann der menſchliche Körper ſchön genannt werden. Der Au-<lb/> genblick der Pubertät iſt für beide Geſchlechter der Augenblick, in welchem<lb/> die Geſtalt der höchſten Schönheit fähig iſt; aber man darf wohl ſagen:<lb/> es iſt nur ein Augenblick!“ u. ſ. w. (Göthe: Winkelmann und zu Diderot).<lb/> Und von dieſem Augenblick ſagt Schelling (Rede über d. Verh. d. bild.<lb/> K. z. Natur), in ihm ſei der naturſchöne Gegenſtand das, was er in der<lb/> ganzen Ewigkeit ſei. Die menſchliche Schönheit iſt aber weiter zu faſſen;<lb/> aus der verwelkten Jugendblüthe erhebt ſich die höhere Schönheit des<lb/> Charakters, der in ſeinen phyſiognomiſchen Zügen und ſeinen Handlungen<lb/> vor die Anſchauung tritt. Allein auch dieſe Schönheit iſt flüchtig; denn<lb/> dem Charakter iſt es um den ſittlichen Zweck und nicht darum zu thun,<lb/> wie ſeine Geſtalt und Bewegung dabei ausſieht. Dieß iſt ſchon in §. 237<lb/> ausgeſprochen, dort aber nur, um zu zeigen, warum die ſittlich menſchliche<lb/> Menſchheit zum Naturſchönen gehört; jetzt ziehen wir die Folge da-<lb/> raus zur Auflöſung des Naturſchönen, die wir allerdings vorerſt nur als<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [302/0016]
zelne Erſcheinung zunächſt ihre Gattung und durch dieſe das Ganze der
abſoluten Idee dar. Sie tritt dadurch aus dem unendlichen Zuſammen-
hang heraus, iſt ein Ausſchnitt derſelben, der jetzt für das Ganze gilt.
Im breiten, großen Zuſammenhange des unendlich ausgedehnten Ganzen
ſelbſt ſcheint es zunächſt, als ob in ſeltenen Fällen ein Einzelnes die Feinde,
die ſich auf ſeine Koſten erhalten wollen, den Druck der Geſammt-Ab-
hängigkeit ſo abſchütteln könne, daß es für alle Andern ſtehe, die Fülle des
Alls in ſich zeige, demnach wirklich ſchön ſey. Dieſen Schein nun engen
wir jetzt zunächſt nur auf einen immer kleineren Punkt ein. Sorgt die
Natur für Erhaltung und nicht für Schönheit als ſolche, ſo liegt ihr auch
nichts daran, das ſeltene Schöne, dem ſie Daſein gönnt, feſtzuhalten; das
Leben geht weiter und fragt nicht nach dem Untergang der Geſtalt oder
erhält ſie nur nothdürftig. „Die Natur arbeitet auf Leben und Daſein,
auf Erhaltung und Fortpflanzung ihres Geſchöpfes, unbekümmert, ob es
ſchön oder häßlich erſcheine. Eine Geſtalt, die von Geburt an ſchön zu
ſein beſtimmt war, kann durch irgend einen Zufall in Einem Theile ver-
letzt werden; ſogleich leiden andere Theile mit. Denn nun braucht die
Natur Kräfte, den verletzten Theil wieder herzuſtellen und ſo wird den
übrigen etwas entzogen, wodurch ihre Entwicklung durchaus geſtört wer-
den muß. Das Geſchöpf wird nicht mehr, was es ſein ſollte, ſondern
was es ſein kann.“ (Göthe zu Diderot). Merklicher oder unmerklicher
gehen die Verletzungen fort, bis das Ganze aufgerieben iſt. Raſche Ver-
gänglichkeit iſt die Klage, die alles Naturſchöne umſchwebt. Nicht nur die
ſchöne Beleuchtung einer Landſchaft, auch die Blüthe des organiſchen Le-
bens iſt ein Moment. „Genau genommen kann man ſagen, es ſei nur
ein Augenblick, in welchem der ſchöne Menſch ſchön ſei.“ „Nur äußerſt
kurze Zeit kann der menſchliche Körper ſchön genannt werden. Der Au-
genblick der Pubertät iſt für beide Geſchlechter der Augenblick, in welchem
die Geſtalt der höchſten Schönheit fähig iſt; aber man darf wohl ſagen:
es iſt nur ein Augenblick!“ u. ſ. w. (Göthe: Winkelmann und zu Diderot).
Und von dieſem Augenblick ſagt Schelling (Rede über d. Verh. d. bild.
K. z. Natur), in ihm ſei der naturſchöne Gegenſtand das, was er in der
ganzen Ewigkeit ſei. Die menſchliche Schönheit iſt aber weiter zu faſſen;
aus der verwelkten Jugendblüthe erhebt ſich die höhere Schönheit des
Charakters, der in ſeinen phyſiognomiſchen Zügen und ſeinen Handlungen
vor die Anſchauung tritt. Allein auch dieſe Schönheit iſt flüchtig; denn
dem Charakter iſt es um den ſittlichen Zweck und nicht darum zu thun,
wie ſeine Geſtalt und Bewegung dabei ausſieht. Dieß iſt ſchon in §. 237
ausgeſprochen, dort aber nur, um zu zeigen, warum die ſittlich menſchliche
Menſchheit zum Naturſchönen gehört; jetzt ziehen wir die Folge da-
raus zur Auflöſung des Naturſchönen, die wir allerdings vorerſt nur als
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