Anschauen eines gegebenen Gegenstandes, den wir unbewußt zum schönen umbilden; wir finden das Schöne und wir tragen es in uns. Diese petitio principii nun ist erst dann ein unmöglicher Widerspruch, wenn von dem ganzen und vollen Ideale die Rede ist, das sich freilich nicht mehr mit einem in der Natur gegebenen Objecte verwechseln läßt; das noch un- reife Ideal aber, dessen Grenzlinien nicht zur klaren Scheidung gelangen, erzeugt sich je bei Gelegenheit in einer Wechselwirkung zwischen Finden und Schaffen; die Möglichkeit desselben liegt im Subjecte des Anschauen- den, die Anschauung befruchtet sie und in einem ungeschiedenen Acte legt sich das Subject mit seinem Innern in den Gegenstand, den es mit dem Urbilde verwechselt. Die Phantasie als besondere Gabe kehrt natürlich auf diesen allgemeinen Boden der dunkleren Verschlingung des Urbilds mit vorgefundenen Objecten, wovon auch sie ausgeht, zurück, wenn sie gelegentlich Naturschönes einfach genießt, aber ihr eigentliches Thun erhebt sich darüber in das freie, bewußte Schaffen.
Die erste Aufgabe nun ist die Auflösung des Naturschönen. Absicht- lich wird hier empirisch begonnen und im gegenwärtigen §. Solches gesagt, was freilich obenhin Jeder weiß, was aber als Resultat und als wirk- liche Erfahrung etwas Anderes ist. Wir kommen von der drückenden Be- obachtung her, daß es eine Linie der Civilisation gibt, welche zur Linie der Schönheit gerade im umgekehrten Verhältnisse steht. Zwar ist es nicht die ächte Menschenbildung, welche alle anschauliche Fälle des Daseins ab- streift, aber Jahrhunderte sind mit jener halben und auflösenden, welche als Uebergangsform allerdings auch nothwendig ist, vollauf beschäftigt. Die Silberblicke des Schönen in der Geschichte sind daher wirklich selten, und so sind sie es in der ganzen Welt des Naturschönen. Raphael klagt in dem bekannten Briefe mitten im Lande der Schönheit über carestia di belle donneund nicht alle Tage findet sich in Rom ein Modell wie die Vittoria von Albano zur Zeit Rumohrs. "Das letzte Product der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch. Zwar kann sie ihn nur selten hervorbringen, weil ihren Ideen gar viele Bedingungen widerstreben" u. s. w. (Göthe: Winkelmann). Jedes Lebende hat unzählige Feinde. Der Kampf mit ihnen kann erhaben oder komisch seyn; aber der Zufall, wo sich in der gegebenen Einheit der vorliegenden An- schauung das Häßliche in dieses oder jenes aufhebt, ist ebenfalls selten. Wir stehen im Leben und seinem unendlichen Zusammenhang. Das Na- turschöne ist daher wesentlich lebendig, und es wird dadurch auch nach seiner Auflösung in eine vermittelte, gesicherte Form seinen Werth behaup- ten, aber es wird in jenem Zusammenhang von allen Seiten gestoßen und gerieben, denn die Natur sorgt für Alles zugleich und ist auf Erhaltung, aber nicht auf Schönheit als solche bedacht. Im Schönen stellt eine ein-
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Anſchauen eines gegebenen Gegenſtandes, den wir unbewußt zum ſchönen umbilden; wir finden das Schöne und wir tragen es in uns. Dieſe petitio principii nun iſt erſt dann ein unmöglicher Widerſpruch, wenn von dem ganzen und vollen Ideale die Rede iſt, das ſich freilich nicht mehr mit einem in der Natur gegebenen Objecte verwechſeln läßt; das noch un- reife Ideal aber, deſſen Grenzlinien nicht zur klaren Scheidung gelangen, erzeugt ſich je bei Gelegenheit in einer Wechſelwirkung zwiſchen Finden und Schaffen; die Möglichkeit deſſelben liegt im Subjecte des Anſchauen- den, die Anſchauung befruchtet ſie und in einem ungeſchiedenen Acte legt ſich das Subject mit ſeinem Innern in den Gegenſtand, den es mit dem Urbilde verwechſelt. Die Phantaſie als beſondere Gabe kehrt natürlich auf dieſen allgemeinen Boden der dunkleren Verſchlingung des Urbilds mit vorgefundenen Objecten, wovon auch ſie ausgeht, zurück, wenn ſie gelegentlich Naturſchönes einfach genießt, aber ihr eigentliches Thun erhebt ſich darüber in das freie, bewußte Schaffen.
Die erſte Aufgabe nun iſt die Auflöſung des Naturſchönen. Abſicht- lich wird hier empiriſch begonnen und im gegenwärtigen §. Solches geſagt, was freilich obenhin Jeder weiß, was aber als Reſultat und als wirk- liche Erfahrung etwas Anderes iſt. Wir kommen von der drückenden Be- obachtung her, daß es eine Linie der Civiliſation gibt, welche zur Linie der Schönheit gerade im umgekehrten Verhältniſſe ſteht. Zwar iſt es nicht die ächte Menſchenbildung, welche alle anſchauliche Fälle des Daſeins ab- ſtreift, aber Jahrhunderte ſind mit jener halben und auflöſenden, welche als Uebergangsform allerdings auch nothwendig iſt, vollauf beſchäftigt. Die Silberblicke des Schönen in der Geſchichte ſind daher wirklich ſelten, und ſo ſind ſie es in der ganzen Welt des Naturſchönen. Raphael klagt in dem bekannten Briefe mitten im Lande der Schönheit über carestia di belle donneund nicht alle Tage findet ſich in Rom ein Modell wie die Vittoria von Albano zur Zeit Rumohrs. „Das letzte Product der ſich immer ſteigernden Natur iſt der ſchöne Menſch. Zwar kann ſie ihn nur ſelten hervorbringen, weil ihren Ideen gar viele Bedingungen widerſtreben“ u. ſ. w. (Göthe: Winkelmann). Jedes Lebende hat unzählige Feinde. Der Kampf mit ihnen kann erhaben oder komiſch ſeyn; aber der Zufall, wo ſich in der gegebenen Einheit der vorliegenden An- ſchauung das Häßliche in dieſes oder jenes aufhebt, iſt ebenfalls ſelten. Wir ſtehen im Leben und ſeinem unendlichen Zuſammenhang. Das Na- turſchöne iſt daher weſentlich lebendig, und es wird dadurch auch nach ſeiner Auflöſung in eine vermittelte, geſicherte Form ſeinen Werth behaup- ten, aber es wird in jenem Zuſammenhang von allen Seiten geſtoßen und gerieben, denn die Natur ſorgt für Alles zugleich und iſt auf Erhaltung, aber nicht auf Schönheit als ſolche bedacht. Im Schönen ſtellt eine ein-
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Anſchauen eines gegebenen Gegenſtandes, den wir unbewußt zum ſchönen
umbilden; wir finden das Schöne und wir tragen es in uns. Dieſe
petitio principii nun iſt erſt dann ein unmöglicher Widerſpruch, wenn von
dem ganzen und vollen Ideale die Rede iſt, das ſich freilich nicht mehr
mit einem in der Natur gegebenen Objecte verwechſeln läßt; das noch un-
reife Ideal aber, deſſen Grenzlinien nicht zur klaren Scheidung gelangen,
erzeugt ſich je bei Gelegenheit in einer Wechſelwirkung zwiſchen Finden
und Schaffen; die Möglichkeit deſſelben liegt im Subjecte des Anſchauen-
den, die Anſchauung befruchtet ſie und in einem ungeſchiedenen Acte legt
ſich das Subject mit ſeinem Innern in den Gegenſtand, den es mit dem
Urbilde verwechſelt. Die Phantaſie als beſondere Gabe kehrt natürlich
auf dieſen allgemeinen Boden der dunkleren Verſchlingung des Urbilds
mit vorgefundenen Objecten, wovon auch ſie ausgeht, zurück, wenn ſie
gelegentlich Naturſchönes einfach genießt, aber ihr eigentliches Thun erhebt
ſich darüber in das freie, bewußte Schaffen.
Die erſte Aufgabe nun iſt die Auflöſung des Naturſchönen. Abſicht-
lich wird hier empiriſch begonnen und im gegenwärtigen §. Solches geſagt,
was freilich obenhin Jeder weiß, was aber als Reſultat und als wirk-
liche Erfahrung etwas Anderes iſt. Wir kommen von der drückenden Be-
obachtung her, daß es eine Linie der Civiliſation gibt, welche zur Linie
der Schönheit gerade im umgekehrten Verhältniſſe ſteht. Zwar iſt es nicht
die ächte Menſchenbildung, welche alle anſchauliche Fälle des Daſeins ab-
ſtreift, aber Jahrhunderte ſind mit jener halben und auflöſenden, welche
als Uebergangsform allerdings auch nothwendig iſt, vollauf beſchäftigt.
Die Silberblicke des Schönen in der Geſchichte ſind daher wirklich ſelten,
und ſo ſind ſie es in der ganzen Welt des Naturſchönen. Raphael klagt
in dem bekannten Briefe mitten im Lande der Schönheit über carestia di
belle donne und nicht alle Tage findet ſich in Rom ein Modell wie die
Vittoria von Albano zur Zeit Rumohrs. „Das letzte Product der ſich
immer ſteigernden Natur iſt der ſchöne Menſch. Zwar kann ſie ihn nur
ſelten hervorbringen, weil ihren Ideen gar viele Bedingungen
widerſtreben“ u. ſ. w. (Göthe: Winkelmann). Jedes Lebende hat
unzählige Feinde. Der Kampf mit ihnen kann erhaben oder komiſch ſeyn;
aber der Zufall, wo ſich in der gegebenen Einheit der vorliegenden An-
ſchauung das Häßliche in dieſes oder jenes aufhebt, iſt ebenfalls ſelten.
Wir ſtehen im Leben und ſeinem unendlichen Zuſammenhang. Das Na-
turſchöne iſt daher weſentlich lebendig, und es wird dadurch auch nach
ſeiner Auflöſung in eine vermittelte, geſicherte Form ſeinen Werth behaup-
ten, aber es wird in jenem Zuſammenhang von allen Seiten geſtoßen und
gerieben, denn die Natur ſorgt für Alles zugleich und iſt auf Erhaltung,
aber nicht auf Schönheit als ſolche bedacht. Im Schönen ſtellt eine ein-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/15>, abgerufen am 08.07.2024.
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