in die Einbildungskraft gesammelte Bildermasse menschlicher Schönheit zu Hilfe. Hiezu nehme man, daß auch er sich der Idee als solcher kei- neswegs bewußt, daß sie nur ein treibender Instinkt in seiner Erfindung ist. Die Unterscheidung eines philosophischen und historischen Mythus müssen wir schon deßwegen verwerfen. Sie hat nur soweit Grund, als es neben Mythen, welche ein Bestehendes in dieser Weise erläutern und so mit Einem Sprunge in die Urzeit zurückgehen, daher sehr erkennbar die Idee an der Stirne tragen, wie namentlich die theogonischen Mythen (O. Müller a. a. O. S. 71), auch solche gibt, welche nicht unmittelbar Bestehendes erläutern, sondern von Bestehendem, wie z. B. den jetzigen Sitzen der Volksstämme, zuerst auf geschichtliche Thatsachen, namentlich die Anfänge der Bevölkerung, Einwanderungen der Stämme, Heldentha- ten der Urzeit zurückgehen und dann diese Thatsachen erst auf göttliche Handlungen zurückführen: so z. B. der Raub der Helena, die Abfahrt von Aulis, die Pest im Lager vor Troja. Allein was der Mythus zum Behuf dieser Zurückführung erzählt, ist ja auch hier immer erdichtet und historisch nur dieser Rückgriff auf Thatsachen, der in die Mitte geschoben wird. Man wird aber immer bemerken, daß dann die historische That- sache schon vorher auf einem andern Wege von der Phantasie ergriffen war, in der Weise der Heldensage nämlich, und daß also der sogenannte historische Mythus nichts ist als "Mythus an der Sage" (George a. a. O. S. 102): diese hat das geschichtlich Gegebene ergriffen und der My- thus, der Bestehendes durch reine Erfindung einer Geschichte erläutert, faßt einen ihrer Punkte wie eine bestehende Gegenwart oder wie eine Thatsache, die einst bestand, die er erklären müsse, auf, also z. B. jene Pest. Die Sage nun geht einfach von den großen Thatsachen der Zeit aus, da es noch keine kritische Geschichte gibt, also der heroischen Vorzeit. Es sind diese Thatsachen, die sie weiter erzählt, aber je länger je mehr umbildet. Man wird nicht mit George annehmen müssen, daß diese Um- bildung in einem steigenden Mißverständniß der Idee und daraus fol- gender Veränderung der anfangs richtig aufgefaßten Thatsache bestehe; es genügt, auch hier die Vereinzelung der Idee, die Trennung vom Umfang der Ideen und der Erscheinungen, also von der strengen Be- dingtheit alles Geschehenden als Grund der Umbildung in das Unmög- liche anzunehmen. Das Verdienst der großen Führer der Völker, der Helden, Stifter von Staaten, Religionen faßt die Sage fortwährend rich- tig, aber sie vergißt, daß dieß Verdienst nur in den Bedingungen der Natur und aller Geschichte handeln konnte, isolirt es, nimmt für voll auf einmal, was nur durch lange Entwickelung und vereinigtes Verdienst Vieler möglich war, und erweitert ihre Gestalten über alle Schranken der menschlichen Dürftigkeit hinaus. Sie bleibt bei ihrem Typus, sie hängt
in die Einbildungskraft geſammelte Bildermaſſe menſchlicher Schönheit zu Hilfe. Hiezu nehme man, daß auch er ſich der Idee als ſolcher kei- neswegs bewußt, daß ſie nur ein treibender Inſtinkt in ſeiner Erfindung iſt. Die Unterſcheidung eines philoſophiſchen und hiſtoriſchen Mythus müſſen wir ſchon deßwegen verwerfen. Sie hat nur ſoweit Grund, als es neben Mythen, welche ein Beſtehendes in dieſer Weiſe erläutern und ſo mit Einem Sprunge in die Urzeit zurückgehen, daher ſehr erkennbar die Idee an der Stirne tragen, wie namentlich die theogoniſchen Mythen (O. Müller a. a. O. S. 71), auch ſolche gibt, welche nicht unmittelbar Beſtehendes erläutern, ſondern von Beſtehendem, wie z. B. den jetzigen Sitzen der Volksſtämme, zuerſt auf geſchichtliche Thatſachen, namentlich die Anfänge der Bevölkerung, Einwanderungen der Stämme, Heldentha- ten der Urzeit zurückgehen und dann dieſe Thatſachen erſt auf göttliche Handlungen zurückführen: ſo z. B. der Raub der Helena, die Abfahrt von Aulis, die Peſt im Lager vor Troja. Allein was der Mythus zum Behuf dieſer Zurückführung erzählt, iſt ja auch hier immer erdichtet und hiſtoriſch nur dieſer Rückgriff auf Thatſachen, der in die Mitte geſchoben wird. Man wird aber immer bemerken, daß dann die hiſtoriſche That- ſache ſchon vorher auf einem andern Wege von der Phantaſie ergriffen war, in der Weiſe der Heldenſage nämlich, und daß alſo der ſogenannte hiſtoriſche Mythus nichts iſt als „Mythus an der Sage“ (George a. a. O. S. 102): dieſe hat das geſchichtlich Gegebene ergriffen und der My- thus, der Beſtehendes durch reine Erfindung einer Geſchichte erläutert, faßt einen ihrer Punkte wie eine beſtehende Gegenwart oder wie eine Thatſache, die einſt beſtand, die er erklären müſſe, auf, alſo z. B. jene Peſt. Die Sage nun geht einfach von den großen Thatſachen der Zeit aus, da es noch keine kritiſche Geſchichte gibt, alſo der heroiſchen Vorzeit. Es ſind dieſe Thatſachen, die ſie weiter erzählt, aber je länger je mehr umbildet. Man wird nicht mit George annehmen müſſen, daß dieſe Um- bildung in einem ſteigenden Mißverſtändniß der Idee und daraus fol- gender Veränderung der anfangs richtig aufgefaßten Thatſache beſtehe; es genügt, auch hier die Vereinzelung der Idee, die Trennung vom Umfang der Ideen und der Erſcheinungen, alſo von der ſtrengen Be- dingtheit alles Geſchehenden als Grund der Umbildung in das Unmög- liche anzunehmen. Das Verdienſt der großen Führer der Völker, der Helden, Stifter von Staaten, Religionen faßt die Sage fortwährend rich- tig, aber ſie vergißt, daß dieß Verdienſt nur in den Bedingungen der Natur und aller Geſchichte handeln konnte, iſolirt es, nimmt für voll auf einmal, was nur durch lange Entwickelung und vereinigtes Verdienſt Vieler möglich war, und erweitert ihre Geſtalten über alle Schranken der menſchlichen Dürftigkeit hinaus. Sie bleibt bei ihrem Typus, ſie hängt
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0139"n="425"/>
in die Einbildungskraft geſammelte Bildermaſſe menſchlicher Schönheit<lb/>
zu Hilfe. Hiezu nehme man, daß auch er ſich der Idee als ſolcher kei-<lb/>
neswegs bewußt, daß ſie nur ein treibender Inſtinkt in ſeiner Erfindung<lb/>
iſt. Die Unterſcheidung eines philoſophiſchen und hiſtoriſchen Mythus<lb/>
müſſen wir ſchon deßwegen verwerfen. Sie hat nur ſoweit Grund, als es<lb/>
neben Mythen, welche ein Beſtehendes in dieſer Weiſe erläutern und ſo<lb/>
mit Einem Sprunge in die Urzeit zurückgehen, daher ſehr erkennbar die<lb/>
Idee an der Stirne tragen, wie namentlich die theogoniſchen Mythen<lb/>
(O. Müller a. a. O. S. 71), auch ſolche gibt, welche nicht unmittelbar<lb/>
Beſtehendes erläutern, ſondern von Beſtehendem, wie z. B. den jetzigen<lb/>
Sitzen der Volksſtämme, zuerſt auf geſchichtliche Thatſachen, namentlich<lb/>
die Anfänge der Bevölkerung, Einwanderungen der Stämme, Heldentha-<lb/>
ten der Urzeit zurückgehen und dann dieſe Thatſachen erſt auf göttliche<lb/>
Handlungen zurückführen: ſo z. B. der Raub der Helena, die Abfahrt<lb/>
von Aulis, die Peſt im Lager vor Troja. Allein <hirendition="#g">was</hi> der Mythus zum<lb/>
Behuf dieſer Zurückführung erzählt, iſt ja auch hier immer erdichtet und<lb/>
hiſtoriſch nur dieſer Rückgriff auf Thatſachen, der in die Mitte geſchoben<lb/>
wird. Man wird aber immer bemerken, daß dann die hiſtoriſche That-<lb/>ſache ſchon vorher auf einem andern Wege von der Phantaſie ergriffen<lb/>
war, in der Weiſe der Heldenſage nämlich, und daß alſo der ſogenannte<lb/>
hiſtoriſche Mythus nichts iſt als „Mythus an der Sage“ (George a. a.<lb/>
O. S. 102): dieſe hat das geſchichtlich Gegebene ergriffen und der My-<lb/>
thus, der Beſtehendes durch reine Erfindung einer Geſchichte erläutert,<lb/>
faßt einen ihrer Punkte wie eine beſtehende Gegenwart oder wie eine<lb/>
Thatſache, die einſt beſtand, die er erklären müſſe, auf, alſo z. B. jene<lb/>
Peſt. Die Sage nun geht einfach von den großen Thatſachen der Zeit<lb/>
aus, da es noch keine kritiſche Geſchichte gibt, alſo der heroiſchen Vorzeit.<lb/>
Es ſind dieſe Thatſachen, die ſie weiter erzählt, aber je länger je mehr<lb/>
umbildet. Man wird nicht mit George annehmen müſſen, daß dieſe Um-<lb/>
bildung in einem ſteigenden Mißverſtändniß der Idee und <hirendition="#g">daraus</hi> fol-<lb/>
gender Veränderung der anfangs richtig aufgefaßten Thatſache beſtehe;<lb/>
es genügt, auch hier die <hirendition="#g">Vereinzelung</hi> der Idee, die Trennung vom<lb/>
Umfang der Ideen und der Erſcheinungen, alſo von der ſtrengen Be-<lb/>
dingtheit alles Geſchehenden als Grund der Umbildung in das Unmög-<lb/>
liche anzunehmen. Das Verdienſt der großen Führer der Völker, der<lb/>
Helden, Stifter von Staaten, Religionen faßt die Sage fortwährend rich-<lb/>
tig, aber ſie vergißt, daß dieß Verdienſt nur in den Bedingungen der<lb/>
Natur und aller Geſchichte handeln konnte, iſolirt es, nimmt für voll<lb/>
auf einmal, was nur durch lange Entwickelung und vereinigtes Verdienſt<lb/>
Vieler möglich war, und erweitert ihre Geſtalten über alle Schranken der<lb/>
menſchlichen Dürftigkeit hinaus. Sie bleibt bei ihrem Typus, ſie hängt<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[425/0139]
in die Einbildungskraft geſammelte Bildermaſſe menſchlicher Schönheit
zu Hilfe. Hiezu nehme man, daß auch er ſich der Idee als ſolcher kei-
neswegs bewußt, daß ſie nur ein treibender Inſtinkt in ſeiner Erfindung
iſt. Die Unterſcheidung eines philoſophiſchen und hiſtoriſchen Mythus
müſſen wir ſchon deßwegen verwerfen. Sie hat nur ſoweit Grund, als es
neben Mythen, welche ein Beſtehendes in dieſer Weiſe erläutern und ſo
mit Einem Sprunge in die Urzeit zurückgehen, daher ſehr erkennbar die
Idee an der Stirne tragen, wie namentlich die theogoniſchen Mythen
(O. Müller a. a. O. S. 71), auch ſolche gibt, welche nicht unmittelbar
Beſtehendes erläutern, ſondern von Beſtehendem, wie z. B. den jetzigen
Sitzen der Volksſtämme, zuerſt auf geſchichtliche Thatſachen, namentlich
die Anfänge der Bevölkerung, Einwanderungen der Stämme, Heldentha-
ten der Urzeit zurückgehen und dann dieſe Thatſachen erſt auf göttliche
Handlungen zurückführen: ſo z. B. der Raub der Helena, die Abfahrt
von Aulis, die Peſt im Lager vor Troja. Allein was der Mythus zum
Behuf dieſer Zurückführung erzählt, iſt ja auch hier immer erdichtet und
hiſtoriſch nur dieſer Rückgriff auf Thatſachen, der in die Mitte geſchoben
wird. Man wird aber immer bemerken, daß dann die hiſtoriſche That-
ſache ſchon vorher auf einem andern Wege von der Phantaſie ergriffen
war, in der Weiſe der Heldenſage nämlich, und daß alſo der ſogenannte
hiſtoriſche Mythus nichts iſt als „Mythus an der Sage“ (George a. a.
O. S. 102): dieſe hat das geſchichtlich Gegebene ergriffen und der My-
thus, der Beſtehendes durch reine Erfindung einer Geſchichte erläutert,
faßt einen ihrer Punkte wie eine beſtehende Gegenwart oder wie eine
Thatſache, die einſt beſtand, die er erklären müſſe, auf, alſo z. B. jene
Peſt. Die Sage nun geht einfach von den großen Thatſachen der Zeit
aus, da es noch keine kritiſche Geſchichte gibt, alſo der heroiſchen Vorzeit.
Es ſind dieſe Thatſachen, die ſie weiter erzählt, aber je länger je mehr
umbildet. Man wird nicht mit George annehmen müſſen, daß dieſe Um-
bildung in einem ſteigenden Mißverſtändniß der Idee und daraus fol-
gender Veränderung der anfangs richtig aufgefaßten Thatſache beſtehe;
es genügt, auch hier die Vereinzelung der Idee, die Trennung vom
Umfang der Ideen und der Erſcheinungen, alſo von der ſtrengen Be-
dingtheit alles Geſchehenden als Grund der Umbildung in das Unmög-
liche anzunehmen. Das Verdienſt der großen Führer der Völker, der
Helden, Stifter von Staaten, Religionen faßt die Sage fortwährend rich-
tig, aber ſie vergißt, daß dieß Verdienſt nur in den Bedingungen der
Natur und aller Geſchichte handeln konnte, iſolirt es, nimmt für voll
auf einmal, was nur durch lange Entwickelung und vereinigtes Verdienſt
Vieler möglich war, und erweitert ihre Geſtalten über alle Schranken der
menſchlichen Dürftigkeit hinaus. Sie bleibt bei ihrem Typus, ſie hängt
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/139>, abgerufen am 08.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.