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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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1. Man weiß, wie viele menschlich schöne Darstellungen sich im Orient
neben den symbolischen finden; wir dürfen nur an die Bilder der Gewerbe,
des Cultus, des Kriegs in den ägyptischen Hypogäen, in indischen, persi-
schen, babylonischen Tempeln und Pallästen, an die Sakontala, an die Helden-
gedichte erinnern, die keinem Volke des Orients fehlten. Der ursprüngliche
Stoff wurde theils direct, theils in der Weise der Sage in das Schöne
erhoben. Hier findet der Unterschied von Mythus und Sage, wie ihn
George (Mythus und Sage) scharfsinnig entwickelt hat, nachdem wir den
Ausdruck Sagenbildung zu §. 419 allgemeiner gebraucht haben, ihren
Ort. Dieser allgemeinere Gebrauch war erlaubt, weil der Mythus wie
die eigentliche Sage ein Gewächse der von Mund zu Mund gehenden
Ueberlieferung ist; nun aber sind die Begriffe genauer auseinanderzuhal-
ten. Der §. nimmt zur allgemeinen Begriffsbestimmung des Mythus,
als Bildung einer geschichtlichen Thatsache aus der Idee heraus, wie sie
George gegeben, sogleich die weitere herauf, daß der Mythus "auf die
Uranfänge der Erscheinungen zurückgehen will, von denen der jetzige Zu-
stand herkommt", daß er daher mit dem wunderbaren Bilde, das er ohne
Rücksicht auf die Gesammtwelt der Erscheinungen aus seiner vereinzelten
Idee herausspinnt, den leeren Raum der dunkeln Urzeit bevölkert, die
dem Heroenalter eines Volks vorhergeht. Hier haben wir nur noch einen
naheliegenden Einwurf gegen unsere ganze Grundlegung der Phantasie-
thätigkeit zu berücksichtigen. Der Mythus geht von der Idee aus, wir
aber forderten schlechtweg für die Phantasie überall ein Ausgehen von der
Erscheinung, und so könnte man nun sagen, da der Mythus dieser Be-
stimmung gemäß von der Idee ausgeht, warum die Phantasie überhaupt,
also auch die freie, nicht denselben Weg sollte einschlagen können? Allein
man bemerke wohl: gegeben ist auch dem Mythus sein Ausgangspunkt,
die vorliegende Naturordnung, die vorliegende Ordnung des Staats und
aller menschlichen Thätigkeit, Ackerbau, Gesetz u. s. f, oder der Gottes-
dienst, seine symbolischen Handlungen. Das ist sein Stoff (Süjet),
das sucht er aus einer göttlichen Handlung, Einsetzung in der Urzeit zu
erklären und zu begründen. Auch die freie, nicht mythische Phantasie
verfährt oft in dieser Weise der Erläuterung; ein interessantes Beispiel
davon, die Entstehung von Kleists zerbrochenem Kruge, gaben wir zu
§. 393, im Kleinen entsteht noch täglich Mythenartiges auf diesem Wege,
wie wenn Einer eine rothe Nase hat, leicht der Mythus sich bildet,
daß er trinke. Nur hält die freie Phantasie ihre erläuternde Erfindung
nicht für Geschichte, wie der Mythus. Hier aber reden wir von dem
Gemeinsamen, daß der Mythus so wenig wie diese unmittelbar von der
Idee ausgeht und indem er ein Bestehendes erläuternd, Geschichte aus
der Idee spinnt, so nimmt er zudem wieder eine aus der Erfahrung

1. Man weiß, wie viele menſchlich ſchöne Darſtellungen ſich im Orient
neben den ſymboliſchen finden; wir dürfen nur an die Bilder der Gewerbe,
des Cultus, des Kriegs in den ägyptiſchen Hypogäen, in indiſchen, perſi-
ſchen, babyloniſchen Tempeln und Palläſten, an die Sakontala, an die Helden-
gedichte erinnern, die keinem Volke des Orients fehlten. Der urſprüngliche
Stoff wurde theils direct, theils in der Weiſe der Sage in das Schöne
erhoben. Hier findet der Unterſchied von Mythus und Sage, wie ihn
George (Mythus und Sage) ſcharfſinnig entwickelt hat, nachdem wir den
Ausdruck Sagenbildung zu §. 419 allgemeiner gebraucht haben, ihren
Ort. Dieſer allgemeinere Gebrauch war erlaubt, weil der Mythus wie
die eigentliche Sage ein Gewächſe der von Mund zu Mund gehenden
Ueberlieferung iſt; nun aber ſind die Begriffe genauer auseinanderzuhal-
ten. Der §. nimmt zur allgemeinen Begriffsbeſtimmung des Mythus,
als Bildung einer geſchichtlichen Thatſache aus der Idee heraus, wie ſie
George gegeben, ſogleich die weitere herauf, daß der Mythus „auf die
Uranfänge der Erſcheinungen zurückgehen will, von denen der jetzige Zu-
ſtand herkommt“, daß er daher mit dem wunderbaren Bilde, das er ohne
Rückſicht auf die Geſammtwelt der Erſcheinungen aus ſeiner vereinzelten
Idee herausſpinnt, den leeren Raum der dunkeln Urzeit bevölkert, die
dem Heroenalter eines Volks vorhergeht. Hier haben wir nur noch einen
naheliegenden Einwurf gegen unſere ganze Grundlegung der Phantaſie-
thätigkeit zu berückſichtigen. Der Mythus geht von der Idee aus, wir
aber forderten ſchlechtweg für die Phantaſie überall ein Ausgehen von der
Erſcheinung, und ſo könnte man nun ſagen, da der Mythus dieſer Be-
ſtimmung gemäß von der Idee ausgeht, warum die Phantaſie überhaupt,
alſo auch die freie, nicht denſelben Weg ſollte einſchlagen können? Allein
man bemerke wohl: gegeben iſt auch dem Mythus ſein Ausgangspunkt,
die vorliegende Naturordnung, die vorliegende Ordnung des Staats und
aller menſchlichen Thätigkeit, Ackerbau, Geſetz u. ſ. f, oder der Gottes-
dienſt, ſeine ſymboliſchen Handlungen. Das iſt ſein Stoff (Süjet),
das ſucht er aus einer göttlichen Handlung, Einſetzung in der Urzeit zu
erklären und zu begründen. Auch die freie, nicht mythiſche Phantaſie
verfährt oft in dieſer Weiſe der Erläuterung; ein intereſſantes Beiſpiel
davon, die Entſtehung von Kleiſts zerbrochenem Kruge, gaben wir zu
§. 393, im Kleinen entſteht noch täglich Mythenartiges auf dieſem Wege,
wie wenn Einer eine rothe Naſe hat, leicht der Mythus ſich bildet,
daß er trinke. Nur hält die freie Phantaſie ihre erläuternde Erfindung
nicht für Geſchichte, wie der Mythus. Hier aber reden wir von dem
Gemeinſamen, daß der Mythus ſo wenig wie dieſe unmittelbar von der
Idee ausgeht und indem er ein Beſtehendes erläuternd, Geſchichte aus
der Idee ſpinnt, ſo nimmt er zudem wieder eine aus der Erfahrung

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[424/0138] 1. Man weiß, wie viele menſchlich ſchöne Darſtellungen ſich im Orient neben den ſymboliſchen finden; wir dürfen nur an die Bilder der Gewerbe, des Cultus, des Kriegs in den ägyptiſchen Hypogäen, in indiſchen, perſi- ſchen, babyloniſchen Tempeln und Palläſten, an die Sakontala, an die Helden- gedichte erinnern, die keinem Volke des Orients fehlten. Der urſprüngliche Stoff wurde theils direct, theils in der Weiſe der Sage in das Schöne erhoben. Hier findet der Unterſchied von Mythus und Sage, wie ihn George (Mythus und Sage) ſcharfſinnig entwickelt hat, nachdem wir den Ausdruck Sagenbildung zu §. 419 allgemeiner gebraucht haben, ihren Ort. Dieſer allgemeinere Gebrauch war erlaubt, weil der Mythus wie die eigentliche Sage ein Gewächſe der von Mund zu Mund gehenden Ueberlieferung iſt; nun aber ſind die Begriffe genauer auseinanderzuhal- ten. Der §. nimmt zur allgemeinen Begriffsbeſtimmung des Mythus, als Bildung einer geſchichtlichen Thatſache aus der Idee heraus, wie ſie George gegeben, ſogleich die weitere herauf, daß der Mythus „auf die Uranfänge der Erſcheinungen zurückgehen will, von denen der jetzige Zu- ſtand herkommt“, daß er daher mit dem wunderbaren Bilde, das er ohne Rückſicht auf die Geſammtwelt der Erſcheinungen aus ſeiner vereinzelten Idee herausſpinnt, den leeren Raum der dunkeln Urzeit bevölkert, die dem Heroenalter eines Volks vorhergeht. Hier haben wir nur noch einen naheliegenden Einwurf gegen unſere ganze Grundlegung der Phantaſie- thätigkeit zu berückſichtigen. Der Mythus geht von der Idee aus, wir aber forderten ſchlechtweg für die Phantaſie überall ein Ausgehen von der Erſcheinung, und ſo könnte man nun ſagen, da der Mythus dieſer Be- ſtimmung gemäß von der Idee ausgeht, warum die Phantaſie überhaupt, alſo auch die freie, nicht denſelben Weg ſollte einſchlagen können? Allein man bemerke wohl: gegeben iſt auch dem Mythus ſein Ausgangspunkt, die vorliegende Naturordnung, die vorliegende Ordnung des Staats und aller menſchlichen Thätigkeit, Ackerbau, Geſetz u. ſ. f, oder der Gottes- dienſt, ſeine ſymboliſchen Handlungen. Das iſt ſein Stoff (Süjet), das ſucht er aus einer göttlichen Handlung, Einſetzung in der Urzeit zu erklären und zu begründen. Auch die freie, nicht mythiſche Phantaſie verfährt oft in dieſer Weiſe der Erläuterung; ein intereſſantes Beiſpiel davon, die Entſtehung von Kleiſts zerbrochenem Kruge, gaben wir zu §. 393, im Kleinen entſteht noch täglich Mythenartiges auf dieſem Wege, wie wenn Einer eine rothe Naſe hat, leicht der Mythus ſich bildet, daß er trinke. Nur hält die freie Phantaſie ihre erläuternde Erfindung nicht für Geſchichte, wie der Mythus. Hier aber reden wir von dem Gemeinſamen, daß der Mythus ſo wenig wie dieſe unmittelbar von der Idee ausgeht und indem er ein Beſtehendes erläuternd, Geſchichte aus der Idee ſpinnt, ſo nimmt er zudem wieder eine aus der Erfahrung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/138>, abgerufen am 02.05.2024.