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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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und dieß ist Mythus. Mythus ist Vorstellung einer Idee, welche zu
allgemein oder abstract, zu losgetrennt aus der Gesammtheit der Ideen
ist, um die bewegende Seele einer wirklichen Geschichte zu sein, als
einer für sich und in dieser Abstraction Geschichte constituirenden.
Trotz dieser Abstraction wird die Idee doch als hinreichende Seele,
als Zweck eines Gottes vorgestellt. Es ist daher ganz richtig, den
Mythus als das in Handlung auseinandergelegte Symbol zu fassen, wie
Baur (a. a. O. Th. 1, S. 39 ff). Das treffendste Beispiel des eigent-
lichsten Eintreffens dieser Bedeutung des Mythus gibt der Schlauch
des Marsyas nach O. Müller (a. a. O. S. 113). Allein die Aus-
einanderlegung ist zugleich Aufhebung des Symbols als eines solchen:
was todte Bedeutung des ruhenden, räumlichen Symbols war, ist warm-
blütiger Wille einer Person geworden.

Der Orient nun begnügte sich ebensowenig damit, die lebendige
Person hinter der Natur-Erscheinung zu ahnen, als er zufrieden war,
die todte Bedeutung in der bloßen Anschauung der letzteren zu suchen;
vielmehr wie er sie als Symbol zum innern (und sofort äußern) Bilde
erhob, ebenso nahm er auch den geahnten Gott heraus, stellte ihn sich
getrennt von ihr als ein Wesen mit menschlicher Gestalt vor und setzte
diese in Bewegung, die Person in Handlung. Der Orient hatte also
mehr, als Symbole, er hatte Mythen, und zwar selbst die einfache persische
Religion hatte solche im Kampfe des Ormuzd und Ariman u. s. w.

Allein es blieb dennoch bei dem bloßen Ansatze, die Personbildung
blieb unvollkommen, unreif, die Ablösung, die Herausschälung des Gottes
aus dem Symbol unvollständig, oder, wie Hegel sagt, die Personifica-
tion oberflächlich. Die Beweise dieses Zurücksinkens aus dem Mythus in
das Symbol liegen darin, daß die Gestalt wieder aus der menschlichen
Form gerückt wurde durch Hinzufügen solcher Züge, Bildungen, welche
nur symbolisch sein können, wie Darstellung in elementarischen Farben
(Siwa roth, Wischnu blau u. s. w. als Symbol eines Elements); daß
ferner einzelne Organe zu mißverhältnißmäßiger Größe aufgetrieben wur-
den, was ebenfalls sogleich die symbolische Absicht verräth: so namentlich
die Zeugungs-Organe, und es war zwar mythischer Fortschritt, Katego-
rieen wie Causalität u. s. w. als Zeugung vorzustellen, allein dieß daran
war blos symbolisch, daß man die Zeugung und ihre Organe selbst
wieder isolirte und ihr Verhältniß zum Ganzen der Gestalt und Person
umkehrte; weiter, daß die organisch nothwendige Zahl der Organe (Arme,
Füße, Brüste, selbst Köpfe,) vervielfältigt oder gar mit thierischen vertauscht
wurden; endlich aber vorzüglich darin, daß die erdichtete Handlung nicht
wahre Handlung, sondern theils Naturact (wie eben das Zeugen) war,
theils vorherrschend an ihre Stelle das Leiden trat (Osiris, Adonis),

und dieß iſt Mythus. Mythus iſt Vorſtellung einer Idee, welche zu
allgemein oder abſtract, zu losgetrennt aus der Geſammtheit der Ideen
iſt, um die bewegende Seele einer wirklichen Geſchichte zu ſein, als
einer für ſich und in dieſer Abſtraction Geſchichte conſtituirenden.
Trotz dieſer Abſtraction wird die Idee doch als hinreichende Seele,
als Zweck eines Gottes vorgeſtellt. Es iſt daher ganz richtig, den
Mythus als das in Handlung auseinandergelegte Symbol zu faſſen, wie
Baur (a. a. O. Th. 1, S. 39 ff). Das treffendſte Beiſpiel des eigent-
lichſten Eintreffens dieſer Bedeutung des Mythus gibt der Schlauch
des Marſyas nach O. Müller (a. a. O. S. 113). Allein die Aus-
einanderlegung iſt zugleich Aufhebung des Symbols als eines ſolchen:
was todte Bedeutung des ruhenden, räumlichen Symbols war, iſt warm-
blütiger Wille einer Perſon geworden.

Der Orient nun begnügte ſich ebenſowenig damit, die lebendige
Perſon hinter der Natur-Erſcheinung zu ahnen, als er zufrieden war,
die todte Bedeutung in der bloßen Anſchauung der letzteren zu ſuchen;
vielmehr wie er ſie als Symbol zum innern (und ſofort äußern) Bilde
erhob, ebenſo nahm er auch den geahnten Gott heraus, ſtellte ihn ſich
getrennt von ihr als ein Weſen mit menſchlicher Geſtalt vor und ſetzte
dieſe in Bewegung, die Perſon in Handlung. Der Orient hatte alſo
mehr, als Symbole, er hatte Mythen, und zwar ſelbſt die einfache perſiſche
Religion hatte ſolche im Kampfe des Ormuzd und Ariman u. ſ. w.

Allein es blieb dennoch bei dem bloßen Anſatze, die Perſonbildung
blieb unvollkommen, unreif, die Ablöſung, die Herausſchälung des Gottes
aus dem Symbol unvollſtändig, oder, wie Hegel ſagt, die Perſonifica-
tion oberflächlich. Die Beweiſe dieſes Zurückſinkens aus dem Mythus in
das Symbol liegen darin, daß die Geſtalt wieder aus der menſchlichen
Form gerückt wurde durch Hinzufügen ſolcher Züge, Bildungen, welche
nur ſymboliſch ſein können, wie Darſtellung in elementariſchen Farben
(Siwa roth, Wiſchnu blau u. ſ. w. als Symbol eines Elements); daß
ferner einzelne Organe zu mißverhältnißmäßiger Größe aufgetrieben wur-
den, was ebenfalls ſogleich die ſymboliſche Abſicht verräth: ſo namentlich
die Zeugungs-Organe, und es war zwar mythiſcher Fortſchritt, Katego-
rieen wie Cauſalität u. ſ. w. als Zeugung vorzuſtellen, allein dieß daran
war blos ſymboliſch, daß man die Zeugung und ihre Organe ſelbſt
wieder iſolirte und ihr Verhältniß zum Ganzen der Geſtalt und Perſon
umkehrte; weiter, daß die organiſch nothwendige Zahl der Organe (Arme,
Füße, Brüſte, ſelbſt Köpfe,) vervielfältigt oder gar mit thieriſchen vertauſcht
wurden; endlich aber vorzüglich darin, daß die erdichtete Handlung nicht
wahre Handlung, ſondern theils Naturact (wie eben das Zeugen) war,
theils vorherrſchend an ihre Stelle das Leiden trat (Oſiris, Adonis),

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[422/0136] und dieß iſt Mythus. Mythus iſt Vorſtellung einer Idee, welche zu allgemein oder abſtract, zu losgetrennt aus der Geſammtheit der Ideen iſt, um die bewegende Seele einer wirklichen Geſchichte zu ſein, als einer für ſich und in dieſer Abſtraction Geſchichte conſtituirenden. Trotz dieſer Abſtraction wird die Idee doch als hinreichende Seele, als Zweck eines Gottes vorgeſtellt. Es iſt daher ganz richtig, den Mythus als das in Handlung auseinandergelegte Symbol zu faſſen, wie Baur (a. a. O. Th. 1, S. 39 ff). Das treffendſte Beiſpiel des eigent- lichſten Eintreffens dieſer Bedeutung des Mythus gibt der Schlauch des Marſyas nach O. Müller (a. a. O. S. 113). Allein die Aus- einanderlegung iſt zugleich Aufhebung des Symbols als eines ſolchen: was todte Bedeutung des ruhenden, räumlichen Symbols war, iſt warm- blütiger Wille einer Perſon geworden. Der Orient nun begnügte ſich ebenſowenig damit, die lebendige Perſon hinter der Natur-Erſcheinung zu ahnen, als er zufrieden war, die todte Bedeutung in der bloßen Anſchauung der letzteren zu ſuchen; vielmehr wie er ſie als Symbol zum innern (und ſofort äußern) Bilde erhob, ebenſo nahm er auch den geahnten Gott heraus, ſtellte ihn ſich getrennt von ihr als ein Weſen mit menſchlicher Geſtalt vor und ſetzte dieſe in Bewegung, die Perſon in Handlung. Der Orient hatte alſo mehr, als Symbole, er hatte Mythen, und zwar ſelbſt die einfache perſiſche Religion hatte ſolche im Kampfe des Ormuzd und Ariman u. ſ. w. Allein es blieb dennoch bei dem bloßen Anſatze, die Perſonbildung blieb unvollkommen, unreif, die Ablöſung, die Herausſchälung des Gottes aus dem Symbol unvollſtändig, oder, wie Hegel ſagt, die Perſonifica- tion oberflächlich. Die Beweiſe dieſes Zurückſinkens aus dem Mythus in das Symbol liegen darin, daß die Geſtalt wieder aus der menſchlichen Form gerückt wurde durch Hinzufügen ſolcher Züge, Bildungen, welche nur ſymboliſch ſein können, wie Darſtellung in elementariſchen Farben (Siwa roth, Wiſchnu blau u. ſ. w. als Symbol eines Elements); daß ferner einzelne Organe zu mißverhältnißmäßiger Größe aufgetrieben wur- den, was ebenfalls ſogleich die ſymboliſche Abſicht verräth: ſo namentlich die Zeugungs-Organe, und es war zwar mythiſcher Fortſchritt, Katego- rieen wie Cauſalität u. ſ. w. als Zeugung vorzuſtellen, allein dieß daran war blos ſymboliſch, daß man die Zeugung und ihre Organe ſelbſt wieder iſolirte und ihr Verhältniß zum Ganzen der Geſtalt und Perſon umkehrte; weiter, daß die organiſch nothwendige Zahl der Organe (Arme, Füße, Brüſte, ſelbſt Köpfe,) vervielfältigt oder gar mit thieriſchen vertauſcht wurden; endlich aber vorzüglich darin, daß die erdichtete Handlung nicht wahre Handlung, ſondern theils Naturact (wie eben das Zeugen) war, theils vorherrſchend an ihre Stelle das Leiden trat (Oſiris, Adonis),

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/136>, abgerufen am 02.05.2024.