Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
deren Phantasie eben die allgemeine ist. Sie erzeugen gemeinschaftlich. §. 417. Der unfreie Schein, den sie sich so erzeugt, ist kein anderer, als der der In der Religion als ihrem Gipfel dürfen wir vorerst füglich die
deren Phantaſie eben die allgemeine iſt. Sie erzeugen gemeinſchaftlich. §. 417. Der unfreie Schein, den ſie ſich ſo erzeugt, iſt kein anderer, als der der In der Religion als ihrem Gipfel dürfen wir vorerſt füglich die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0118" n="404"/> deren Phantaſie eben die allgemeine iſt. Sie erzeugen gemeinſchaftlich.<lb/> Das Angeſchaute iſt in ihre Einbildungskraft eingegangen; nun ſoll das<lb/> Chaos ihrer Bilder geſtaltet werden, da bringt der Eine den, der Andere<lb/> jenen Zug bei, ein Dritter läßt jenen weg, und der Inſtinkt, der in dieſem<lb/> Zuſammentragen thätig iſt, baut mit jener Sicherheit, mit welcher Thiere<lb/> ihre geſelligen Thätigkeiten ausüben, ein organiſches Ganzes. Die Bei-<lb/> träge ſind nicht willkührlich, denn die Beitragenden ſchwimmen reflexions-<lb/> los in der Maſſe mit. Es wird an Auswüchſen und Lücken des Lawinen-<lb/> artigen Phantaſiegebildes nicht fehlen, aber der Zuſammenhang, der im<lb/> Ganzen waltet, wird wie organiſche Heilkraft ſelbſt dieſe wieder für den<lb/> Ausbau des Gebildes verwenden. Nun verwechſelt aber die allgemeine<lb/> Phantaſie immer das, was ſie in den Gegenſtand hineingeſchaut, mit<lb/> dieſem (§. 379 ff.); davon kann ſie auch jetzt, trotz dem Rücktritt vom<lb/> Gegenſtand und ſeiner Anſchauung und dem Fortſchritt zum ſelbſtthätigen<lb/> innerlichen Geſtalten, ſich nicht befreien. Sie <hi rendition="#g">glaubt</hi> alſo an ihr eigenes<lb/> Geſchöpf, ſie hält das Erdichtete für einen neuen, wirklich exiſtirenden<lb/> Gegenſtand, für Geſchichte. In dieſer Blindheit iſt ſie ebendarum feſtge-<lb/> halten, weil ſie nicht ſelbſtbewußter Act eines Einzelnen, ſondern Werk<lb/> des dunkeln geiſtigen Bautriebs Vieler iſt. Sie iſt ebendarum durch ihr<lb/> eigenes Gebilde ſtoffartig beſtimmt, fürchtet es, liebt es, bittet es u. ſ. w.</hi> </p> </div><lb/> <div n="4"> <head>§. 417.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Der unfreie Schein, den ſie ſich ſo erzeugt, iſt kein anderer, als der der<lb/><hi rendition="#g">Religion</hi> (vergl. §. 24—27. §. 61—67). Der wahre Gehalt der Religion<lb/> iſt die abſolute Idee, wie ſie in denſelben Reichen der Wirklichkeit, welche<lb/> den Umfang der Stoffwelt des Naturſchönen bilden, als gegenwärtig angeſchaut<lb/> wird. Die allgemeine Phantaſie aber ſchafft aus dieſer Stoffwelt ein der je-<lb/> weiligen Bildungsſtufe des Bewußtſeins entſprechendes Bild, welches vermöge<lb/> des unfreien Scheines zu den Gegenſtänden geſchlagen wird und für einen neuen,<lb/><hi rendition="#g">zweiten</hi> Umkreis von vorgefundener Schönheit gilt (vergl. §. 24 und 25). Hie-<lb/> bei zeigt ſich, daß die allgemeine Phantaſie als ſchöpferiſche ſich aus der bloßen<lb/> Einbildungskraft nicht rein herausarbeitet; fortgeriſſen von ihrem eigenen Werke,<lb/> das ebendaher trotz ſeiner abſoluten Bedeutung mit den Mängeln des Natur-<lb/> ſchönen behaftet und nicht wahrhaft ſchön iſt, wird ſie ſtoffartig von ihm be-<lb/> ſtimmt, und dieſes Werk wartet daher auf die beſondere Phantaſie, um erſt<lb/> von ihr zur reinen Schönheit erhoben und wie das urſprünglich Naturſchöne<lb/><hi rendition="#g">Stoff</hi> einer freien Thätigkeit für ſie zu werden.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">In der Religion als ihrem Gipfel dürfen wir vorerſt füglich die<lb/> ganze Sagenwelt eines Volkes, Heldenſage, Mährchen und was verwandt<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [404/0118]
deren Phantaſie eben die allgemeine iſt. Sie erzeugen gemeinſchaftlich.
Das Angeſchaute iſt in ihre Einbildungskraft eingegangen; nun ſoll das
Chaos ihrer Bilder geſtaltet werden, da bringt der Eine den, der Andere
jenen Zug bei, ein Dritter läßt jenen weg, und der Inſtinkt, der in dieſem
Zuſammentragen thätig iſt, baut mit jener Sicherheit, mit welcher Thiere
ihre geſelligen Thätigkeiten ausüben, ein organiſches Ganzes. Die Bei-
träge ſind nicht willkührlich, denn die Beitragenden ſchwimmen reflexions-
los in der Maſſe mit. Es wird an Auswüchſen und Lücken des Lawinen-
artigen Phantaſiegebildes nicht fehlen, aber der Zuſammenhang, der im
Ganzen waltet, wird wie organiſche Heilkraft ſelbſt dieſe wieder für den
Ausbau des Gebildes verwenden. Nun verwechſelt aber die allgemeine
Phantaſie immer das, was ſie in den Gegenſtand hineingeſchaut, mit
dieſem (§. 379 ff.); davon kann ſie auch jetzt, trotz dem Rücktritt vom
Gegenſtand und ſeiner Anſchauung und dem Fortſchritt zum ſelbſtthätigen
innerlichen Geſtalten, ſich nicht befreien. Sie glaubt alſo an ihr eigenes
Geſchöpf, ſie hält das Erdichtete für einen neuen, wirklich exiſtirenden
Gegenſtand, für Geſchichte. In dieſer Blindheit iſt ſie ebendarum feſtge-
halten, weil ſie nicht ſelbſtbewußter Act eines Einzelnen, ſondern Werk
des dunkeln geiſtigen Bautriebs Vieler iſt. Sie iſt ebendarum durch ihr
eigenes Gebilde ſtoffartig beſtimmt, fürchtet es, liebt es, bittet es u. ſ. w.
§. 417.
Der unfreie Schein, den ſie ſich ſo erzeugt, iſt kein anderer, als der der
Religion (vergl. §. 24—27. §. 61—67). Der wahre Gehalt der Religion
iſt die abſolute Idee, wie ſie in denſelben Reichen der Wirklichkeit, welche
den Umfang der Stoffwelt des Naturſchönen bilden, als gegenwärtig angeſchaut
wird. Die allgemeine Phantaſie aber ſchafft aus dieſer Stoffwelt ein der je-
weiligen Bildungsſtufe des Bewußtſeins entſprechendes Bild, welches vermöge
des unfreien Scheines zu den Gegenſtänden geſchlagen wird und für einen neuen,
zweiten Umkreis von vorgefundener Schönheit gilt (vergl. §. 24 und 25). Hie-
bei zeigt ſich, daß die allgemeine Phantaſie als ſchöpferiſche ſich aus der bloßen
Einbildungskraft nicht rein herausarbeitet; fortgeriſſen von ihrem eigenen Werke,
das ebendaher trotz ſeiner abſoluten Bedeutung mit den Mängeln des Natur-
ſchönen behaftet und nicht wahrhaft ſchön iſt, wird ſie ſtoffartig von ihm be-
ſtimmt, und dieſes Werk wartet daher auf die beſondere Phantaſie, um erſt
von ihr zur reinen Schönheit erhoben und wie das urſprünglich Naturſchöne
Stoff einer freien Thätigkeit für ſie zu werden.
In der Religion als ihrem Gipfel dürfen wir vorerſt füglich die
ganze Sagenwelt eines Volkes, Heldenſage, Mährchen und was verwandt
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |