Die besondere Phantasie erhebt sich aus dem Boden der allgemeinen (§. 384), und es fragt sich nun, wie weit diese der besondern Phantasie auch in ihr drittes Moment (§. 394--399) folge. Ist sie fähig, das Naturschöne zu finden, nimmt sie am ersten und zweiten Momente der besondern Phantasie (§. 385 ff. 387 ff.) Theil, so kann ihr auch das dritte (§. 392 ff.) nicht völlig verschlossen sein. Sie erzeugt also allerdings Schönes auch durch eigene Formthätigkeit, aber diese bleibt ein massenhafter Instinct, der das durch Uebergang von Mund zu Mund angewachsene Gesammtproduct nicht als freies Erzeugniß von seinem Gegenstande unterscheidet, sondern stoffartig mit ihm verwechselt.
Seit §. 389 haben wir uns nicht mehr danach umgesehen, ob und wie weit die allgemeine Phantasie mitgehe. Vom Traume, der damals zunächst aufgeführt wurde, verstand es sich von selbst. Aber in das dritte und reinste Moment der besonderen Phantasie, das schien sich ebenfalls von selbst zu verstehen, konnte sie ihr nicht folgen. Dennoch ist nun, am Schlusse der Lehre von der Phantasie des Einzelnen, auf dem Uebergang zur Geschichte der Phantasie diese Frage aufzunehmen und es erhellt so- gar von selbst, daß, wo überhaupt Phantasie ist, unmöglich eines der Momente ihr ganz verschlossen sein könne, daß also irgendwie auch der Phantasie der Massen eine reine schöpferische Thätigkeit zukommen müsse, aber freilich nur mit gewissen einschränkenden Bedingungen. Vor Allem nämlich kann hier die schöpferische Formthätigkeit nicht freier Act des Einzel- nen, sondern nur ein dunklerer Gesammt-Act der unbestimmt Vielen sein,
B. Die Geſchichte der Phantaſie oder des Ideals.
§. 416.
Die beſondere Phantaſie erhebt ſich aus dem Boden der allgemeinen (§. 384), und es fragt ſich nun, wie weit dieſe der beſondern Phantaſie auch in ihr drittes Moment (§. 394—399) folge. Iſt ſie fähig, das Naturſchöne zu finden, nimmt ſie am erſten und zweiten Momente der beſondern Phantaſie (§. 385 ff. 387 ff.) Theil, ſo kann ihr auch das dritte (§. 392 ff.) nicht völlig verſchloſſen ſein. Sie erzeugt alſo allerdings Schönes auch durch eigene Formthätigkeit, aber dieſe bleibt ein maſſenhafter Inſtinct, der das durch Uebergang von Mund zu Mund angewachſene Geſammtproduct nicht als freies Erzeugniß von ſeinem Gegenſtande unterſcheidet, ſondern ſtoffartig mit ihm verwechſelt.
Seit §. 389 haben wir uns nicht mehr danach umgeſehen, ob und wie weit die allgemeine Phantaſie mitgehe. Vom Traume, der damals zunächſt aufgeführt wurde, verſtand es ſich von ſelbſt. Aber in das dritte und reinſte Moment der beſonderen Phantaſie, das ſchien ſich ebenfalls von ſelbſt zu verſtehen, konnte ſie ihr nicht folgen. Dennoch iſt nun, am Schluſſe der Lehre von der Phantaſie des Einzelnen, auf dem Uebergang zur Geſchichte der Phantaſie dieſe Frage aufzunehmen und es erhellt ſo- gar von ſelbſt, daß, wo überhaupt Phantaſie iſt, unmöglich eines der Momente ihr ganz verſchloſſen ſein könne, daß alſo irgendwie auch der Phantaſie der Maſſen eine reine ſchöpferiſche Thätigkeit zukommen müſſe, aber freilich nur mit gewiſſen einſchränkenden Bedingungen. Vor Allem nämlich kann hier die ſchöpferiſche Formthätigkeit nicht freier Act des Einzel- nen, ſondern nur ein dunklerer Geſammt-Act der unbeſtimmt Vielen ſein,
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[[403]/0117]
B.
Die Geſchichte der Phantaſie
oder
des Ideals.
§. 416.
Die beſondere Phantaſie erhebt ſich aus dem Boden der allgemeinen (§. 384),
und es fragt ſich nun, wie weit dieſe der beſondern Phantaſie auch in ihr drittes
Moment (§. 394—399) folge. Iſt ſie fähig, das Naturſchöne zu finden,
nimmt ſie am erſten und zweiten Momente der beſondern Phantaſie (§. 385 ff.
387 ff.) Theil, ſo kann ihr auch das dritte (§. 392 ff.) nicht völlig verſchloſſen
ſein. Sie erzeugt alſo allerdings Schönes auch durch eigene Formthätigkeit,
aber dieſe bleibt ein maſſenhafter Inſtinct, der das durch Uebergang von Mund
zu Mund angewachſene Geſammtproduct nicht als freies Erzeugniß von ſeinem
Gegenſtande unterſcheidet, ſondern ſtoffartig mit ihm verwechſelt.
Seit §. 389 haben wir uns nicht mehr danach umgeſehen, ob und
wie weit die allgemeine Phantaſie mitgehe. Vom Traume, der damals
zunächſt aufgeführt wurde, verſtand es ſich von ſelbſt. Aber in das dritte
und reinſte Moment der beſonderen Phantaſie, das ſchien ſich ebenfalls
von ſelbſt zu verſtehen, konnte ſie ihr nicht folgen. Dennoch iſt nun, am
Schluſſe der Lehre von der Phantaſie des Einzelnen, auf dem Uebergang
zur Geſchichte der Phantaſie dieſe Frage aufzunehmen und es erhellt ſo-
gar von ſelbſt, daß, wo überhaupt Phantaſie iſt, unmöglich eines der
Momente ihr ganz verſchloſſen ſein könne, daß alſo irgendwie auch der
Phantaſie der Maſſen eine reine ſchöpferiſche Thätigkeit zukommen müſſe,
aber freilich nur mit gewiſſen einſchränkenden Bedingungen. Vor Allem
nämlich kann hier die ſchöpferiſche Formthätigkeit nicht freier Act des Einzel-
nen, ſondern nur ein dunklerer Geſammt-Act der unbeſtimmt Vielen ſein,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. [403]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/117>, abgerufen am 08.07.2024.
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