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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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tiefen Gehaltes sind, zunächst nur das eine oder andere Mal, oder nur da und
dort ein, so entsteht das fragmentarische Genie, dem die Fehler des
Ueberschusses an Gehalt näher liegen. Es pflegt sich nicht gesund zu entwickeln,
sondern zerfällt leicht mit sich und der Welt.

Mit der Unterscheidung von Talent und Genie reicht man nicht
aus; man kann alle die Erscheinungen nicht unterbringen, welche stellen-
weise im Mittelpunkte der Schönheit stehen und dann wieder seicht, ver-
worren, breit, irivial, selbst häßlich werden. Wir nennen nur Walter
Scott und Heine; beide haben Goldadern, aber daneben zerfließt jener
in das Seichte, Breite, Triviale und desorganisirt dieser sein Werk in
bewußte und gewollte Häßlichkeit. Nicht so verhält es sich bei diesen
fragmentarischen Genie's, daß zwischen eine Schönheit der Form, die nicht
Wort hält, der baare Gehalt formlos durchbräche, sondern wahrhafte
Schönheit, Einheit vollen Gehalts und urgewaltiger Form bricht stellen-
weise durch und dann erlahmen die Schwingen wieder; aber weil in den
seichten Stellen der selbsterzeugte Gehalt vermißt wird, so scheinen die
Silberblicke, obwohl sie Einheit von Gehalt und Form haben, auf die
Seite des bloßen Gehalts zu fallen und der Mann selbst, im Gefühle der Ge-
theiltheit und Punctualität seiner Natur, wird, indem er die Quellen der
ganzen Schönheit in vollere Strömung zu bringen sucht, wirklich absicht-
lich und pumpt häufig statt voller Schönheit nackten Gehalt oder bloßen
Drang des Gehalts herauf. Doch gewöhnlich wird das fragmentarische
Genie da, wo es nicht Genie ist, mit der Leichtigkeit des Talents wir-
ken, es gibt aber auch fragmentarische Genie's, welche daneben nicht Ta-
lente sind, denen daher die Leichtigkeit fehlt, da, wo sie nicht wahrhaft
schön sind, bequem, gefällig, bestechend zu sein. Diese sehnen sich nach
der guten Stunde, die selten kommt. Phantasie-Menschen überhaupt sind
als Stimmungskinder reizbar, launisch; die aber, bei denen es beinahe
und manchmal ganz zur Phantasie streckt und welche in den Zwischen-
stunden das Talent nicht zur Verfügung haben, sind besonders launisch,
reizbar, bitter, unglücklich. Sie können die wirkliche Welt nicht ertragen,
weil der reine Fluß, der ihre Härte in Schönheit verklärt, nur stockend
in ihnen sickert; die Ungleichheit zwischen ihren einzelnen Gebilden oder
den einzelnen Theilen desselben Gebildes ist daher zugleich ein Zwiespalt
ihres Innern mit der Welt. Sie fallen daher leicht in Wahnsinn, wie
Lenz, Hölderlin. Oder sie affectiren die Eingebung, machen ihre Natur-
seite, den Zufall und die höhere Trunkenheit, zum Lebensgesetz im ge-
meinen Sinne, werden geniesüchtig, liederlich. Sie bleiben auf diese oder
jene Weise in den Entwickelungskrisen der Persönlichkeit stecken, denn in
ihnen wirkt nicht das Naturgesetz des vollen Geistes, der durch alle Hin-

tiefen Gehaltes ſind, zunächſt nur das eine oder andere Mal, oder nur da und
dort ein, ſo entſteht das fragmentariſche Genie, dem die Fehler des
Ueberſchuſſes an Gehalt näher liegen. Es pflegt ſich nicht geſund zu entwickeln,
ſondern zerfällt leicht mit ſich und der Welt.

Mit der Unterſcheidung von Talent und Genie reicht man nicht
aus; man kann alle die Erſcheinungen nicht unterbringen, welche ſtellen-
weiſe im Mittelpunkte der Schönheit ſtehen und dann wieder ſeicht, ver-
worren, breit, irivial, ſelbſt häßlich werden. Wir nennen nur Walter
Scott und Heine; beide haben Goldadern, aber daneben zerfließt jener
in das Seichte, Breite, Triviale und desorganiſirt dieſer ſein Werk in
bewußte und gewollte Häßlichkeit. Nicht ſo verhält es ſich bei dieſen
fragmentariſchen Genie’s, daß zwiſchen eine Schönheit der Form, die nicht
Wort hält, der baare Gehalt formlos durchbräche, ſondern wahrhafte
Schönheit, Einheit vollen Gehalts und urgewaltiger Form bricht ſtellen-
weiſe durch und dann erlahmen die Schwingen wieder; aber weil in den
ſeichten Stellen der ſelbſterzeugte Gehalt vermißt wird, ſo ſcheinen die
Silberblicke, obwohl ſie Einheit von Gehalt und Form haben, auf die
Seite des bloßen Gehalts zu fallen und der Mann ſelbſt, im Gefühle der Ge-
theiltheit und Punctualität ſeiner Natur, wird, indem er die Quellen der
ganzen Schönheit in vollere Strömung zu bringen ſucht, wirklich abſicht-
lich und pumpt häufig ſtatt voller Schönheit nackten Gehalt oder bloßen
Drang des Gehalts herauf. Doch gewöhnlich wird das fragmentariſche
Genie da, wo es nicht Genie iſt, mit der Leichtigkeit des Talents wir-
ken, es gibt aber auch fragmentariſche Genie’s, welche daneben nicht Ta-
lente ſind, denen daher die Leichtigkeit fehlt, da, wo ſie nicht wahrhaft
ſchön ſind, bequem, gefällig, beſtechend zu ſein. Dieſe ſehnen ſich nach
der guten Stunde, die ſelten kommt. Phantaſie-Menſchen überhaupt ſind
als Stimmungskinder reizbar, launiſch; die aber, bei denen es beinahe
und manchmal ganz zur Phantaſie ſtreckt und welche in den Zwiſchen-
ſtunden das Talent nicht zur Verfügung haben, ſind beſonders launiſch,
reizbar, bitter, unglücklich. Sie können die wirkliche Welt nicht ertragen,
weil der reine Fluß, der ihre Härte in Schönheit verklärt, nur ſtockend
in ihnen ſickert; die Ungleichheit zwiſchen ihren einzelnen Gebilden oder
den einzelnen Theilen deſſelben Gebildes iſt daher zugleich ein Zwieſpalt
ihres Innern mit der Welt. Sie fallen daher leicht in Wahnſinn, wie
Lenz, Hölderlin. Oder ſie affectiren die Eingebung, machen ihre Natur-
ſeite, den Zufall und die höhere Trunkenheit, zum Lebensgeſetz im ge-
meinen Sinne, werden genieſüchtig, liederlich. Sie bleiben auf dieſe oder
jene Weiſe in den Entwickelungskriſen der Perſönlichkeit ſtecken, denn in
ihnen wirkt nicht das Naturgeſetz des vollen Geiſtes, der durch alle Hin-

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[392/0106] tiefen Gehaltes ſind, zunächſt nur das eine oder andere Mal, oder nur da und dort ein, ſo entſteht das fragmentariſche Genie, dem die Fehler des Ueberſchuſſes an Gehalt näher liegen. Es pflegt ſich nicht geſund zu entwickeln, ſondern zerfällt leicht mit ſich und der Welt. Mit der Unterſcheidung von Talent und Genie reicht man nicht aus; man kann alle die Erſcheinungen nicht unterbringen, welche ſtellen- weiſe im Mittelpunkte der Schönheit ſtehen und dann wieder ſeicht, ver- worren, breit, irivial, ſelbſt häßlich werden. Wir nennen nur Walter Scott und Heine; beide haben Goldadern, aber daneben zerfließt jener in das Seichte, Breite, Triviale und desorganiſirt dieſer ſein Werk in bewußte und gewollte Häßlichkeit. Nicht ſo verhält es ſich bei dieſen fragmentariſchen Genie’s, daß zwiſchen eine Schönheit der Form, die nicht Wort hält, der baare Gehalt formlos durchbräche, ſondern wahrhafte Schönheit, Einheit vollen Gehalts und urgewaltiger Form bricht ſtellen- weiſe durch und dann erlahmen die Schwingen wieder; aber weil in den ſeichten Stellen der ſelbſterzeugte Gehalt vermißt wird, ſo ſcheinen die Silberblicke, obwohl ſie Einheit von Gehalt und Form haben, auf die Seite des bloßen Gehalts zu fallen und der Mann ſelbſt, im Gefühle der Ge- theiltheit und Punctualität ſeiner Natur, wird, indem er die Quellen der ganzen Schönheit in vollere Strömung zu bringen ſucht, wirklich abſicht- lich und pumpt häufig ſtatt voller Schönheit nackten Gehalt oder bloßen Drang des Gehalts herauf. Doch gewöhnlich wird das fragmentariſche Genie da, wo es nicht Genie iſt, mit der Leichtigkeit des Talents wir- ken, es gibt aber auch fragmentariſche Genie’s, welche daneben nicht Ta- lente ſind, denen daher die Leichtigkeit fehlt, da, wo ſie nicht wahrhaft ſchön ſind, bequem, gefällig, beſtechend zu ſein. Dieſe ſehnen ſich nach der guten Stunde, die ſelten kommt. Phantaſie-Menſchen überhaupt ſind als Stimmungskinder reizbar, launiſch; die aber, bei denen es beinahe und manchmal ganz zur Phantaſie ſtreckt und welche in den Zwiſchen- ſtunden das Talent nicht zur Verfügung haben, ſind beſonders launiſch, reizbar, bitter, unglücklich. Sie können die wirkliche Welt nicht ertragen, weil der reine Fluß, der ihre Härte in Schönheit verklärt, nur ſtockend in ihnen ſickert; die Ungleichheit zwiſchen ihren einzelnen Gebilden oder den einzelnen Theilen deſſelben Gebildes iſt daher zugleich ein Zwieſpalt ihres Innern mit der Welt. Sie fallen daher leicht in Wahnſinn, wie Lenz, Hölderlin. Oder ſie affectiren die Eingebung, machen ihre Natur- ſeite, den Zufall und die höhere Trunkenheit, zum Lebensgeſetz im ge- meinen Sinne, werden genieſüchtig, liederlich. Sie bleiben auf dieſe oder jene Weiſe in den Entwickelungskriſen der Perſönlichkeit ſtecken, denn in ihnen wirkt nicht das Naturgeſetz des vollen Geiſtes, der durch alle Hin-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/106>, abgerufen am 21.11.2024.