nein, es gibt auch die großen, aber wie ihnen die Urkraft des eigenen Gehalts fehlt, so fehlt ihnen selbst etwas, ein letzter Druck, das Tüpf- chen auf das J. Raphael und Michel Angelo hatten talentvolle Nachah- mer ihres großen Styls, aber da fehlt überall etwas wie der Lichtpunkt im Auge, und so ist es auch bei den Talenten, die Göthe und Schiller nachahmten, Ernst Wagner, Beer, Schenk und Andern. In diesem Sinn ist das Talent der isolirte Techniker der Phantasie. J. Paul sagt von ihm (a. a. O. §. 9): "in der Poesie wirkt das Talent mit einzelnen Kräften, mit Bildern, Feuer, Gedankenfülle und Reitzen auf das Volk und ergreift gewaltig mit seinem Gedicht, das ein verklärter Leib mit einer Spießbürgerseele ist, denn Glieder erkennt die Menge leicht, aber nicht Geist u. s. w. -- Es gibt kein Bild, keine Wendung, keinen einzelnen Gedanken des Genies, worauf das Talent im höchsten Feuer nicht auch käme, nur auf das Ganze nicht." Es fehlt aber nicht nur im Ganzen; dieses kann bequem und rund sein, es fehlt in allem Einzelnen und am meisten in den Hauptstellen (Hauptgruppen, schlagenden Katastrophen u. s. w.), wo der Blitz der Idee durchbrechen sollte. Es begreift sich nun, wie das Talent unter allen Mängeln (§. 406) in die, welche von einem Ueberschuß an Gehalt rühren, am wenigsten gerathen wird, doch kann ihm mitunter auch die Leichtigkeit der Form plötzlich versiegen und die so entstehenden Lagunen füllt dann irgend ein Gehalt prosaisch und dürftig aus, wie denn z. B. Eugen Sue, ganz Talent, zwischenein predigt, lehrt. So wird auch Ueberschwang des Gefühls, gewaltsame Trunkenheit oder fühlbare Absichtlichkeit eintreten; die Mängel und Fehler aber, welche endemisch im Gebiete des Talents herrschen, sind die der Einbildungskraft; denn da es auf relativer Trennbarkeit der Form vom Gehalte ruht, so bewegt es sich in ihrer Synthese mit vorherrschender Naturtreue, Breite, Ueppigkeit, schweifendem Taumel, stoffartiger Wirkung der Bilder. Der Effect ist ihm gewiß, es gefällt und wird, um pikanter zu wirken, leicht häßlich; es kann sich ja jeder, also auch der verkehrte Gehalt in seine leicht ge- arbeiteten Masken stecken, dieser wird sie aber auch zu Larven verdrehen. Daher behält es aber immer die gemeine Besonnenheit und bewahrt sich leicht vor einzelnen Nachlässigkeiten, die dem Genie mitunterlaufen. Nun ist auch klar, warum Beschränkung auf einen vereinzelten Zweig am wenigsten das Talent charakterisirt; anempfindend wirft es sich leicht in die verschiedensten, legt aber in keinen eine neue Weltanschauung, schafft daher, nachahmend wie es ist, auch keine neue weltbezwingende Form.
§. 410.
Dringt in diese relativ leere Formthätigkeit des Talents die ungetheilte Fülle der Phantasie mit der Urkraft der Formen, welche Ausdruck großen und
nein, es gibt auch die großen, aber wie ihnen die Urkraft des eigenen Gehalts fehlt, ſo fehlt ihnen ſelbſt etwas, ein letzter Druck, das Tüpf- chen auf das J. Raphael und Michel Angelo hatten talentvolle Nachah- mer ihres großen Styls, aber da fehlt überall etwas wie der Lichtpunkt im Auge, und ſo iſt es auch bei den Talenten, die Göthe und Schiller nachahmten, Ernſt Wagner, Beer, Schenk und Andern. In dieſem Sinn iſt das Talent der iſolirte Techniker der Phantaſie. J. Paul ſagt von ihm (a. a. O. §. 9): „in der Poeſie wirkt das Talent mit einzelnen Kräften, mit Bildern, Feuer, Gedankenfülle und Reitzen auf das Volk und ergreift gewaltig mit ſeinem Gedicht, das ein verklärter Leib mit einer Spießbürgerſeele iſt, denn Glieder erkennt die Menge leicht, aber nicht Geiſt u. ſ. w. — Es gibt kein Bild, keine Wendung, keinen einzelnen Gedanken des Genies, worauf das Talent im höchſten Feuer nicht auch käme, nur auf das Ganze nicht.“ Es fehlt aber nicht nur im Ganzen; dieſes kann bequem und rund ſein, es fehlt in allem Einzelnen und am meiſten in den Hauptſtellen (Hauptgruppen, ſchlagenden Kataſtrophen u. ſ. w.), wo der Blitz der Idee durchbrechen ſollte. Es begreift ſich nun, wie das Talent unter allen Mängeln (§. 406) in die, welche von einem Ueberſchuß an Gehalt rühren, am wenigſten gerathen wird, doch kann ihm mitunter auch die Leichtigkeit der Form plötzlich verſiegen und die ſo entſtehenden Lagunen füllt dann irgend ein Gehalt proſaiſch und dürftig aus, wie denn z. B. Eugen Sue, ganz Talent, zwiſchenein predigt, lehrt. So wird auch Ueberſchwang des Gefühls, gewaltſame Trunkenheit oder fühlbare Abſichtlichkeit eintreten; die Mängel und Fehler aber, welche endemiſch im Gebiete des Talents herrſchen, ſind die der Einbildungskraft; denn da es auf relativer Trennbarkeit der Form vom Gehalte ruht, ſo bewegt es ſich in ihrer Syntheſe mit vorherrſchender Naturtreue, Breite, Ueppigkeit, ſchweifendem Taumel, ſtoffartiger Wirkung der Bilder. Der Effect iſt ihm gewiß, es gefällt und wird, um pikanter zu wirken, leicht häßlich; es kann ſich ja jeder, alſo auch der verkehrte Gehalt in ſeine leicht ge- arbeiteten Maſken ſtecken, dieſer wird ſie aber auch zu Larven verdrehen. Daher behält es aber immer die gemeine Beſonnenheit und bewahrt ſich leicht vor einzelnen Nachläſſigkeiten, die dem Genie mitunterlaufen. Nun iſt auch klar, warum Beſchränkung auf einen vereinzelten Zweig am wenigſten das Talent charakteriſirt; anempfindend wirft es ſich leicht in die verſchiedenſten, legt aber in keinen eine neue Weltanſchauung, ſchafft daher, nachahmend wie es iſt, auch keine neue weltbezwingende Form.
§. 410.
Dringt in dieſe relativ leere Formthätigkeit des Talents die ungetheilte Fülle der Phantaſie mit der Urkraft der Formen, welche Ausdruck großen und
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mer ihres großen Styls, aber da fehlt überall etwas wie der Lichtpunkt
im Auge, und ſo iſt es auch bei den Talenten, die Göthe und Schiller
nachahmten, Ernſt Wagner, Beer, Schenk und Andern. In dieſem Sinn
iſt das Talent der iſolirte Techniker der Phantaſie. J. Paul ſagt von
ihm (a. a. O. §. 9): „in der Poeſie wirkt das Talent mit einzelnen
Kräften, mit Bildern, Feuer, Gedankenfülle und Reitzen auf das Volk und
ergreift gewaltig mit ſeinem Gedicht, das ein verklärter Leib mit einer
Spießbürgerſeele iſt, denn Glieder erkennt die Menge leicht, aber nicht
Geiſt u. ſ. w. — Es gibt kein Bild, keine Wendung, keinen einzelnen
Gedanken des Genies, worauf das Talent im höchſten Feuer nicht auch
käme, nur auf das Ganze nicht.“ Es fehlt aber nicht nur im Ganzen;
dieſes kann bequem und rund ſein, es fehlt in allem Einzelnen und am
meiſten in den Hauptſtellen (Hauptgruppen, ſchlagenden Kataſtrophen
u. ſ. w.), wo der Blitz der Idee durchbrechen ſollte. Es begreift ſich nun,
wie das Talent unter allen Mängeln (§. 406) in die, welche von einem
Ueberſchuß an Gehalt rühren, am wenigſten gerathen wird, doch kann
ihm mitunter auch die Leichtigkeit der Form plötzlich verſiegen und die ſo
entſtehenden Lagunen füllt dann irgend ein Gehalt proſaiſch und dürftig
aus, wie denn z. B. Eugen Sue, ganz Talent, zwiſchenein predigt, lehrt. So
wird auch Ueberſchwang des Gefühls, gewaltſame Trunkenheit oder fühlbare
Abſichtlichkeit eintreten; die Mängel und Fehler aber, welche endemiſch im
Gebiete des Talents herrſchen, ſind die der Einbildungskraft; denn da
es auf relativer Trennbarkeit der Form vom Gehalte ruht, ſo bewegt es
ſich in ihrer Syntheſe mit vorherrſchender Naturtreue, Breite, Ueppigkeit,
ſchweifendem Taumel, ſtoffartiger Wirkung der Bilder. Der Effect iſt
ihm gewiß, es gefällt und wird, um pikanter zu wirken, leicht häßlich;
es kann ſich ja jeder, alſo auch der verkehrte Gehalt in ſeine leicht ge-
arbeiteten Maſken ſtecken, dieſer wird ſie aber auch zu Larven verdrehen.
Daher behält es aber immer die gemeine Beſonnenheit und bewahrt
ſich leicht vor einzelnen Nachläſſigkeiten, die dem Genie mitunterlaufen.
Nun iſt auch klar, warum Beſchränkung auf einen vereinzelten Zweig
am wenigſten das Talent charakteriſirt; anempfindend wirft es ſich leicht
in die verſchiedenſten, legt aber in keinen eine neue Weltanſchauung, ſchafft
daher, nachahmend wie es iſt, auch keine neue weltbezwingende Form.
§. 410.
Dringt in dieſe relativ leere Formthätigkeit des Talents die ungetheilte
Fülle der Phantaſie mit der Urkraft der Formen, welche Ausdruck großen und
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/105>, abgerufen am 08.07.2024.
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