Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
Nase, das schmale und spitze Kinn, wozu hier als besonderer Ausdruck
Naſe, das ſchmale und ſpitze Kinn, wozu hier als beſonderer Ausdruck <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0244" n="232"/> Naſe, das ſchmale und ſpitze Kinn, wozu hier als beſonderer Ausdruck<lb/> des ſchneidenden Charakters die dünneren, ſcharf geſchloſſenen Lippen treten.<lb/> Der Leib iſt ſehnigt und ſchlank, die Adern treten heraus, ſagt ein alt-<lb/> arabiſches Volkslied, wie Moosflechten. Aezende Schärfe des Verſtandes<lb/> und Leidenſchaft verbinden ſich in dieſen Völkern zu einem Eigenſinn der<lb/> Zweckthätigkeit, der nur mit Ausnahme der phantaſiereich liberaleren Araber<lb/> bis zu unleidlicher Verbiſſenheit geht. Sie ſind die eigentlich praktiſchen<lb/> Orientalen, aber darum nicht frei von dem allgemeinen Dualiſmus<lb/> morgenländiſcher Natur. Verſtand und Leidenſchaft vereinigen ſich zwar<lb/> im Zwecke, fallen aber auch auseinander und dieß zeigt ſich bei den<lb/> Syrern und Phönizern in der frechen und tollen Sinnlichkeit ihrer Religion<lb/> im Gegenſatz gegen ihre praktiſche Aufklärung und Verſtändigkeit, bei<lb/> den Juden, deren Zweck nur ihr geſchloſſenes Gottesreich iſt, im Kampfe<lb/> zwiſchen dem Einen Gott, den ſich ihr Verſtand abſtrahirt hat, und dem<lb/> widerſtrebenden menſchlichen Willen, in den Schwankungen des Abfalls<lb/> zum umgebenden Heidenthum, in den grauſamen Vertilgungskriegen gegen<lb/> die Nachbarn und in dem zweckwidrigen Wahnſinn, womit ſie ſich durch<lb/> Sekten ſelbſt zerſtörten, übermächtige Gegner zur Unzeit reizten. Kein<lb/> ſemitiſches Volk ging durch einen raſchen Schlag unter, hartlebig und<lb/> zäh raffen ſie nach tiefer Muthloſigkeit ſich immer wieder auf, verbluten<lb/> in langem, ſchmerzvollem Kampfe, bis ein letzter Todesſtoß ein Ende<lb/> macht. In der Geſchichte der heidniſchen Semiten gibt nach den coloſſalen<lb/> Gründungen des aſſyriſchen und phöniziſchen Reichs der Fall von Tyrus<lb/> durch Alexander ein großes Bild, das bedeutendſte aber die puniſchen<lb/> Kriege, Hannibal, der furchtbare Fall Karthagos. Die jüdiſche Geſchichte<lb/> nun wimmelt zwar bekanntlich von großen, vielfach benützten Stoffen.<lb/> Die patriarchaliſchen, idylliſchen ſind erwähnt, Moſes iſt eine herrliche<lb/> Geſtalt, die Zeit der Richter bietet ſchöne Helden-Erſcheinungen dar, die<lb/> Zeit der Könige edle und hohe Charaktere, gewaltig leuchten die Propheten,<lb/> ein Bild voll ſchöner Trauer iſt die babyloniſche Gefangenſchaft, eine<lb/> Reihe der ſchönſten heroiſchen Stoffe bietet der edle Kampf der Maccabäer,<lb/> einen der ungeheuerſten und bedeutungsvollſten in aller Geſchichte die<lb/> Zerſtörung Jeruſalems, und ſelbſt das neuere Schickſal der Juden iſt<lb/> noch eine reiche Quelle äſthetiſcher Motive. Mit der antiken jüdiſchen<lb/> Geſchichte hat es aber ſeine beſondere Schwierigkeit. Sie war immer<lb/> religiöſe Domäne und ihre Stoffe gehörten daher unter die heiligen, ſie<lb/> wurden nicht frei äſthetiſch, ſondern obligat kirchlich idealiſirt. Dieß geht<lb/> uns zwar im jetzigen Zuſammenhange nichts an, wo wir nicht von den<lb/> Formen des Ideals, ſondern vom realen Stoffe reden. Soll nun aber<lb/> dieſer als freies äſthetiſches Object ergriffen werden, ſo hindert daran<lb/> eben die überlieferte Gewohnheit, ihn im Lichte kirchlich beſtimmter Idealität<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [232/0244]
Naſe, das ſchmale und ſpitze Kinn, wozu hier als beſonderer Ausdruck
des ſchneidenden Charakters die dünneren, ſcharf geſchloſſenen Lippen treten.
Der Leib iſt ſehnigt und ſchlank, die Adern treten heraus, ſagt ein alt-
arabiſches Volkslied, wie Moosflechten. Aezende Schärfe des Verſtandes
und Leidenſchaft verbinden ſich in dieſen Völkern zu einem Eigenſinn der
Zweckthätigkeit, der nur mit Ausnahme der phantaſiereich liberaleren Araber
bis zu unleidlicher Verbiſſenheit geht. Sie ſind die eigentlich praktiſchen
Orientalen, aber darum nicht frei von dem allgemeinen Dualiſmus
morgenländiſcher Natur. Verſtand und Leidenſchaft vereinigen ſich zwar
im Zwecke, fallen aber auch auseinander und dieß zeigt ſich bei den
Syrern und Phönizern in der frechen und tollen Sinnlichkeit ihrer Religion
im Gegenſatz gegen ihre praktiſche Aufklärung und Verſtändigkeit, bei
den Juden, deren Zweck nur ihr geſchloſſenes Gottesreich iſt, im Kampfe
zwiſchen dem Einen Gott, den ſich ihr Verſtand abſtrahirt hat, und dem
widerſtrebenden menſchlichen Willen, in den Schwankungen des Abfalls
zum umgebenden Heidenthum, in den grauſamen Vertilgungskriegen gegen
die Nachbarn und in dem zweckwidrigen Wahnſinn, womit ſie ſich durch
Sekten ſelbſt zerſtörten, übermächtige Gegner zur Unzeit reizten. Kein
ſemitiſches Volk ging durch einen raſchen Schlag unter, hartlebig und
zäh raffen ſie nach tiefer Muthloſigkeit ſich immer wieder auf, verbluten
in langem, ſchmerzvollem Kampfe, bis ein letzter Todesſtoß ein Ende
macht. In der Geſchichte der heidniſchen Semiten gibt nach den coloſſalen
Gründungen des aſſyriſchen und phöniziſchen Reichs der Fall von Tyrus
durch Alexander ein großes Bild, das bedeutendſte aber die puniſchen
Kriege, Hannibal, der furchtbare Fall Karthagos. Die jüdiſche Geſchichte
nun wimmelt zwar bekanntlich von großen, vielfach benützten Stoffen.
Die patriarchaliſchen, idylliſchen ſind erwähnt, Moſes iſt eine herrliche
Geſtalt, die Zeit der Richter bietet ſchöne Helden-Erſcheinungen dar, die
Zeit der Könige edle und hohe Charaktere, gewaltig leuchten die Propheten,
ein Bild voll ſchöner Trauer iſt die babyloniſche Gefangenſchaft, eine
Reihe der ſchönſten heroiſchen Stoffe bietet der edle Kampf der Maccabäer,
einen der ungeheuerſten und bedeutungsvollſten in aller Geſchichte die
Zerſtörung Jeruſalems, und ſelbſt das neuere Schickſal der Juden iſt
noch eine reiche Quelle äſthetiſcher Motive. Mit der antiken jüdiſchen
Geſchichte hat es aber ſeine beſondere Schwierigkeit. Sie war immer
religiöſe Domäne und ihre Stoffe gehörten daher unter die heiligen, ſie
wurden nicht frei äſthetiſch, ſondern obligat kirchlich idealiſirt. Dieß geht
uns zwar im jetzigen Zuſammenhange nichts an, wo wir nicht von den
Formen des Ideals, ſondern vom realen Stoffe reden. Soll nun aber
dieſer als freies äſthetiſches Object ergriffen werden, ſo hindert daran
eben die überlieferte Gewohnheit, ihn im Lichte kirchlich beſtimmter Idealität
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