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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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bis zu einer unbestimmteren Grenze, so daß namentlich das erste Auf-
tauchen schwer zu verbergen ist. Die Möglichkeit einer Unterdrückung,
soweit sie vorhanden, wird eben, sofern wir auf dem pathognomischen
Standpunkt sind, nicht geltend gemacht. Eine Pathognomik hätte, als
Theil der Mimik, den Ausdruck der wesentlichsten Stimmungen und
Bewegungen der Seele in seinem natürlichen Verlaufe zu verfolgen.

3. Charakter im emphatischen Sinne begreift Charakter im weiten
Sinne (§. 333 Anm.) so in sich, daß es als Schuld erscheint, wenn sich
dieser nicht zu jenem erhebt. Stellen wir das Pathognomische unter den
Begriff des Charakters, so ist es gesetzt als ein der Freiheit Unterworfenes.
Läßt sich die Individualität in eine Leidenschaft sinken, gewöhnt sie sich
an sie, so daß der pathognomische Ausdruck derselben die Erscheinung
beherrscht, so ist diese Individualität freilich nicht Charakter im stricten
Sinne, aber es ist ihr Fehler, daß sie es nicht ist, denn dieses sich in die
Natur Geben wird nun als Schuld, als Gewolltes gefaßt. So werfen
wir alle Ungeschicklichkeit der Gebärde zum Pathognomischen und verlangen
als Grundlage der Freiheit, daß der Mensch über seine Glieder verfügen
lerne. Thut er es nicht, so ist es seine Schuld und wir rechnen ihm nun
die Ungeschicklichkeit als Charakter im nur formalen Sinne und als
Mangel an wahrem Charakter auf. In Deutschland lernt unter Tausenden
kaum Einer sich halten, gehen, sprechen; dieser Eine schwer vor dem
dreißigsten, vierzigsten Jahre. Der Charakter kann freilich seine Basis
versäumen und sich in der Höhe aufbauend den Körper bis auf einen
Grad fallen lassen, aber dann ist dieß Einseitigkeit des Charakters, wie-
wohl er sonst gut sein mag; zum ganzen Guten gehört Herrschaft über
das Organ, und diese will durch harte Zucht gelernt sein. Der Böse
beherrscht seinen Affect und dessen Ausdruck, aber zu verkehrtem Zweck,
also beherrscht er ihn nur formal und auch dieß ist Schuld. Ist nun
aber der Geist in seinem Körper auch zu Hause, hat er sich eingewohnt,
so kann doch die Freiheit der Beherrschung des pathognomischen Ausdrucks
keine absolute sein, denn nicht nur hat sie selbst, sei es redliche, sei es
Verstellung, ihre unfreiwilligen Zeichen, ihre unverkennbare symbolische
Mimik, sondern die Freiheit kann überhaupt auch als wahre den Natur-
grund nie ganz in ihre Gewalt bekommen, vielmehr ein Gemeinschaftliches
aus Natur und Freiheit entsteht, ein Rhythmus der Mimik, eine Bewegt-
heit und in ihr eine Mäßigung, der nur in den erregtesten Augenblicken
das beherrschte Roß der Leidenschaft den Zügel versagt. Im ächten
Charakter zeigen diese Ausbrüche selbst das edle Feuer, im bösen Schein-
charakter die innere Hölle. Komisch rächt sich in ihnen die Natur an dem,
der seine Selbstbeherrschung durch den Tod aller mimischen Lebendigkeit
zeigen zu müssen meint. Von dieser Mimik des einzelnen Charakters ist

bis zu einer unbeſtimmteren Grenze, ſo daß namentlich das erſte Auf-
tauchen ſchwer zu verbergen iſt. Die Möglichkeit einer Unterdrückung,
ſoweit ſie vorhanden, wird eben, ſofern wir auf dem pathognomiſchen
Standpunkt ſind, nicht geltend gemacht. Eine Pathognomik hätte, als
Theil der Mimik, den Ausdruck der weſentlichſten Stimmungen und
Bewegungen der Seele in ſeinem natürlichen Verlaufe zu verfolgen.

3. Charakter im emphatiſchen Sinne begreift Charakter im weiten
Sinne (§. 333 Anm.) ſo in ſich, daß es als Schuld erſcheint, wenn ſich
dieſer nicht zu jenem erhebt. Stellen wir das Pathognomiſche unter den
Begriff des Charakters, ſo iſt es geſetzt als ein der Freiheit Unterworfenes.
Läßt ſich die Individualität in eine Leidenſchaft ſinken, gewöhnt ſie ſich
an ſie, ſo daß der pathognomiſche Ausdruck derſelben die Erſcheinung
beherrſcht, ſo iſt dieſe Individualität freilich nicht Charakter im ſtricten
Sinne, aber es iſt ihr Fehler, daß ſie es nicht iſt, denn dieſes ſich in die
Natur Geben wird nun als Schuld, als Gewolltes gefaßt. So werfen
wir alle Ungeſchicklichkeit der Gebärde zum Pathognomiſchen und verlangen
als Grundlage der Freiheit, daß der Menſch über ſeine Glieder verfügen
lerne. Thut er es nicht, ſo iſt es ſeine Schuld und wir rechnen ihm nun
die Ungeſchicklichkeit als Charakter im nur formalen Sinne und als
Mangel an wahrem Charakter auf. In Deutſchland lernt unter Tauſenden
kaum Einer ſich halten, gehen, ſprechen; dieſer Eine ſchwer vor dem
dreißigſten, vierzigſten Jahre. Der Charakter kann freilich ſeine Baſis
verſäumen und ſich in der Höhe aufbauend den Körper bis auf einen
Grad fallen laſſen, aber dann iſt dieß Einſeitigkeit des Charakters, wie-
wohl er ſonſt gut ſein mag; zum ganzen Guten gehört Herrſchaft über
das Organ, und dieſe will durch harte Zucht gelernt ſein. Der Böſe
beherrſcht ſeinen Affect und deſſen Ausdruck, aber zu verkehrtem Zweck,
alſo beherrſcht er ihn nur formal und auch dieß iſt Schuld. Iſt nun
aber der Geiſt in ſeinem Körper auch zu Hauſe, hat er ſich eingewohnt,
ſo kann doch die Freiheit der Beherrſchung des pathognomiſchen Ausdrucks
keine abſolute ſein, denn nicht nur hat ſie ſelbſt, ſei es redliche, ſei es
Verſtellung, ihre unfreiwilligen Zeichen, ihre unverkennbare ſymboliſche
Mimik, ſondern die Freiheit kann überhaupt auch als wahre den Natur-
grund nie ganz in ihre Gewalt bekommen, vielmehr ein Gemeinſchaftliches
aus Natur und Freiheit entſteht, ein Rhythmus der Mimik, eine Bewegt-
heit und in ihr eine Mäßigung, der nur in den erregteſten Augenblicken
das beherrſchte Roß der Leidenſchaft den Zügel verſagt. Im ächten
Charakter zeigen dieſe Ausbrüche ſelbſt das edle Feuer, im böſen Schein-
charakter die innere Hölle. Komiſch rächt ſich in ihnen die Natur an dem,
der ſeine Selbſtbeherrſchung durch den Tod aller mimiſchen Lebendigkeit
zeigen zu müſſen meint. Von dieſer Mimik des einzelnen Charakters iſt

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[217/0229] bis zu einer unbeſtimmteren Grenze, ſo daß namentlich das erſte Auf- tauchen ſchwer zu verbergen iſt. Die Möglichkeit einer Unterdrückung, ſoweit ſie vorhanden, wird eben, ſofern wir auf dem pathognomiſchen Standpunkt ſind, nicht geltend gemacht. Eine Pathognomik hätte, als Theil der Mimik, den Ausdruck der weſentlichſten Stimmungen und Bewegungen der Seele in ſeinem natürlichen Verlaufe zu verfolgen. 3. Charakter im emphatiſchen Sinne begreift Charakter im weiten Sinne (§. 333 Anm.) ſo in ſich, daß es als Schuld erſcheint, wenn ſich dieſer nicht zu jenem erhebt. Stellen wir das Pathognomiſche unter den Begriff des Charakters, ſo iſt es geſetzt als ein der Freiheit Unterworfenes. Läßt ſich die Individualität in eine Leidenſchaft ſinken, gewöhnt ſie ſich an ſie, ſo daß der pathognomiſche Ausdruck derſelben die Erſcheinung beherrſcht, ſo iſt dieſe Individualität freilich nicht Charakter im ſtricten Sinne, aber es iſt ihr Fehler, daß ſie es nicht iſt, denn dieſes ſich in die Natur Geben wird nun als Schuld, als Gewolltes gefaßt. So werfen wir alle Ungeſchicklichkeit der Gebärde zum Pathognomiſchen und verlangen als Grundlage der Freiheit, daß der Menſch über ſeine Glieder verfügen lerne. Thut er es nicht, ſo iſt es ſeine Schuld und wir rechnen ihm nun die Ungeſchicklichkeit als Charakter im nur formalen Sinne und als Mangel an wahrem Charakter auf. In Deutſchland lernt unter Tauſenden kaum Einer ſich halten, gehen, ſprechen; dieſer Eine ſchwer vor dem dreißigſten, vierzigſten Jahre. Der Charakter kann freilich ſeine Baſis verſäumen und ſich in der Höhe aufbauend den Körper bis auf einen Grad fallen laſſen, aber dann iſt dieß Einſeitigkeit des Charakters, wie- wohl er ſonſt gut ſein mag; zum ganzen Guten gehört Herrſchaft über das Organ, und dieſe will durch harte Zucht gelernt ſein. Der Böſe beherrſcht ſeinen Affect und deſſen Ausdruck, aber zu verkehrtem Zweck, alſo beherrſcht er ihn nur formal und auch dieß iſt Schuld. Iſt nun aber der Geiſt in ſeinem Körper auch zu Hauſe, hat er ſich eingewohnt, ſo kann doch die Freiheit der Beherrſchung des pathognomiſchen Ausdrucks keine abſolute ſein, denn nicht nur hat ſie ſelbſt, ſei es redliche, ſei es Verſtellung, ihre unfreiwilligen Zeichen, ihre unverkennbare ſymboliſche Mimik, ſondern die Freiheit kann überhaupt auch als wahre den Natur- grund nie ganz in ihre Gewalt bekommen, vielmehr ein Gemeinſchaftliches aus Natur und Freiheit entſteht, ein Rhythmus der Mimik, eine Bewegt- heit und in ihr eine Mäßigung, der nur in den erregteſten Augenblicken das beherrſchte Roß der Leidenſchaft den Zügel verſagt. Im ächten Charakter zeigen dieſe Ausbrüche ſelbſt das edle Feuer, im böſen Schein- charakter die innere Hölle. Komiſch rächt ſich in ihnen die Natur an dem, der ſeine Selbſtbeherrſchung durch den Tod aller mimiſchen Lebendigkeit zeigen zu müſſen meint. Von dieſer Mimik des einzelnen Charakters iſt

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/229>, abgerufen am 23.11.2024.