der Phantasie und Kunst, schon entschieden. Allein in Wahrheit wissen wir noch nicht, ob die reine Form nicht durch den Zufall eines glücklichen Ausbleibens des störenden Zufalls eintreten könne, wovon im nächsten §. die Rede sein wird. Nur der ganze vorliegende zweite Theil wird also vielmehr die zweite der genannten Streitfragen lösen und zwar ebenso wie die erste, nämlich durch eine Aufhebung des Gegensatzes der Ansichten in eine höhere. Wäre die reine Form geradezu als Phantasie ausgesprochen worden, so hätten wir die ganze Stoffwelt verloren, worin der Künstler seine Studien macht, wie dieß in der Vorrede zum ersten Theile und zu §. 43 S. 128 gesagt ist und weiterhin sich noch schlagender darthun wird. Allerdings ist im vorliegenden §. schon der Grund zur Lösung der zweiten Streitfrage gelegt, indem ausgesprochen ist, daß diese Welt der vorgefundenen Schönheit im Verlaufe zur bloßen Stoffwelt herabgesetzt erscheinen wird. Ehe sie aber diesem Verluste des Scheins ihrer Selbständigkeit unter- liegt, soll sie sich erst in der Fülle dieses Scheins ausbreiten.
Vor uns also liegt die Welt als Fundgrube der Schönheit für den Künstler; was er mit dem Gefundenen vornimmt, wird sich zeigen.
§. 234.
Diesem einfachen Schritte von der Metaphysik des Schönen zu der Naturlehre des Schönen scheint die im §. 53 aufgestellte Forderung einer Zusammenziehung des unendlichen Flußes, worin der störende Zufall sich aufhebt, zu widersprechen, denn diese scheint einen Willen, also ein Subject voraus- zusetzen. Allein da das Wesen des Zufalls ist, daß etwas so oder anders sein kann, so ist vorerst schlechthin die Möglichkeit festzuhalten, daß zufällig der störende Zufall ein- und das andremal ausbleibe, oder, wenn er nicht ausbleibt, sich eine Aufhebung des Häßlichen in das Erhabene oder Komische durch eine alsbald hinzutretende Gunst des Zufalls einstelle, und es hat sich die Wissen- schaft für den vorhandenen Schein der Selbständigkeit des Naturschönen nur auf das durchgängige Gesetz, daß die erste Form jeder Wirklichkeit einer Idee die Unmittelbarkeit sei, zu berufen. Es scheint einmal so, daß es neben häßlichen Individuen auch wahrhaft schöne, erhabene und komische gebe und dieser Schein muß vorerst sein Bestehen haben.
Ein Thiermaler sieht unzähliche Pferde, die er nicht brauchen kann, aber die gute Gelegenheit führt ihm da und dort ein Pferd vor die Augen, bei dessen Anblick er ausruft: das ist einmal ein Pferd, das kann ich brauchen! Ebenso findet der Bildhauer einmal ein ausgezeichnetes Modell, der Seemaler belauscht die See in einem entzückenden Momente u. s. w. Dieselbe Gunst des Zufalls, unter welcher ein Individuum sich ungehemmt
der Phantaſie und Kunſt, ſchon entſchieden. Allein in Wahrheit wiſſen wir noch nicht, ob die reine Form nicht durch den Zufall eines glücklichen Ausbleibens des ſtörenden Zufalls eintreten könne, wovon im nächſten §. die Rede ſein wird. Nur der ganze vorliegende zweite Theil wird alſo vielmehr die zweite der genannten Streitfragen löſen und zwar ebenſo wie die erſte, nämlich durch eine Aufhebung des Gegenſatzes der Anſichten in eine höhere. Wäre die reine Form geradezu als Phantaſie ausgeſprochen worden, ſo hätten wir die ganze Stoffwelt verloren, worin der Künſtler ſeine Studien macht, wie dieß in der Vorrede zum erſten Theile und zu §. 43 S. 128 geſagt iſt und weiterhin ſich noch ſchlagender darthun wird. Allerdings iſt im vorliegenden §. ſchon der Grund zur Löſung der zweiten Streitfrage gelegt, indem ausgeſprochen iſt, daß dieſe Welt der vorgefundenen Schönheit im Verlaufe zur bloßen Stoffwelt herabgeſetzt erſcheinen wird. Ehe ſie aber dieſem Verluſte des Scheins ihrer Selbſtändigkeit unter- liegt, ſoll ſie ſich erſt in der Fülle dieſes Scheins ausbreiten.
Vor uns alſo liegt die Welt als Fundgrube der Schönheit für den Künſtler; was er mit dem Gefundenen vornimmt, wird ſich zeigen.
§. 234.
Dieſem einfachen Schritte von der Metaphyſik des Schönen zu der Naturlehre des Schönen ſcheint die im §. 53 aufgeſtellte Forderung einer Zuſammenziehung des unendlichen Flußes, worin der ſtörende Zufall ſich aufhebt, zu widerſprechen, denn dieſe ſcheint einen Willen, alſo ein Subject voraus- zuſetzen. Allein da das Weſen des Zufalls iſt, daß etwas ſo oder anders ſein kann, ſo iſt vorerſt ſchlechthin die Möglichkeit feſtzuhalten, daß zufällig der ſtörende Zufall ein- und das andremal ausbleibe, oder, wenn er nicht ausbleibt, ſich eine Aufhebung des Häßlichen in das Erhabene oder Komiſche durch eine alsbald hinzutretende Gunſt des Zufalls einſtelle, und es hat ſich die Wiſſen- ſchaft für den vorhandenen Schein der Selbſtändigkeit des Naturſchönen nur auf das durchgängige Geſetz, daß die erſte Form jeder Wirklichkeit einer Idee die Unmittelbarkeit ſei, zu berufen. Es ſcheint einmal ſo, daß es neben häßlichen Individuen auch wahrhaft ſchöne, erhabene und komiſche gebe und dieſer Schein muß vorerſt ſein Beſtehen haben.
Ein Thiermaler ſieht unzähliche Pferde, die er nicht brauchen kann, aber die gute Gelegenheit führt ihm da und dort ein Pferd vor die Augen, bei deſſen Anblick er ausruft: das iſt einmal ein Pferd, das kann ich brauchen! Ebenſo findet der Bildhauer einmal ein ausgezeichnetes Modell, der Seemaler belauſcht die See in einem entzückenden Momente u. ſ. w. Dieſelbe Gunſt des Zufalls, unter welcher ein Individuum ſich ungehemmt
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[10/0022]
der Phantaſie und Kunſt, ſchon entſchieden. Allein in Wahrheit wiſſen
wir noch nicht, ob die reine Form nicht durch den Zufall eines glücklichen
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die Rede ſein wird. Nur der ganze vorliegende zweite Theil wird alſo
vielmehr die zweite der genannten Streitfragen löſen und zwar ebenſo wie
die erſte, nämlich durch eine Aufhebung des Gegenſatzes der Anſichten in
eine höhere. Wäre die reine Form geradezu als Phantaſie ausgeſprochen
worden, ſo hätten wir die ganze Stoffwelt verloren, worin der Künſtler
ſeine Studien macht, wie dieß in der Vorrede zum erſten Theile und zu
§. 43 S. 128 geſagt iſt und weiterhin ſich noch ſchlagender darthun wird.
Allerdings iſt im vorliegenden §. ſchon der Grund zur Löſung der zweiten
Streitfrage gelegt, indem ausgeſprochen iſt, daß dieſe Welt der vorgefundenen
Schönheit im Verlaufe zur bloßen Stoffwelt herabgeſetzt erſcheinen wird.
Ehe ſie aber dieſem Verluſte des Scheins ihrer Selbſtändigkeit unter-
liegt, ſoll ſie ſich erſt in der Fülle dieſes Scheins ausbreiten.
Vor uns alſo liegt die Welt als Fundgrube der Schönheit für den
Künſtler; was er mit dem Gefundenen vornimmt, wird ſich zeigen.
§. 234.
Dieſem einfachen Schritte von der Metaphyſik des Schönen zu der
Naturlehre des Schönen ſcheint die im §. 53 aufgeſtellte Forderung einer
Zuſammenziehung des unendlichen Flußes, worin der ſtörende Zufall ſich aufhebt,
zu widerſprechen, denn dieſe ſcheint einen Willen, alſo ein Subject voraus-
zuſetzen. Allein da das Weſen des Zufalls iſt, daß etwas ſo oder anders ſein
kann, ſo iſt vorerſt ſchlechthin die Möglichkeit feſtzuhalten, daß zufällig der
ſtörende Zufall ein- und das andremal ausbleibe, oder, wenn er nicht ausbleibt,
ſich eine Aufhebung des Häßlichen in das Erhabene oder Komiſche durch eine
alsbald hinzutretende Gunſt des Zufalls einſtelle, und es hat ſich die Wiſſen-
ſchaft für den vorhandenen Schein der Selbſtändigkeit des Naturſchönen nur auf
das durchgängige Geſetz, daß die erſte Form jeder Wirklichkeit einer Idee die
Unmittelbarkeit ſei, zu berufen. Es ſcheint einmal ſo, daß es neben häßlichen
Individuen auch wahrhaft ſchöne, erhabene und komiſche gebe und dieſer Schein
muß vorerſt ſein Beſtehen haben.
Ein Thiermaler ſieht unzähliche Pferde, die er nicht brauchen kann,
aber die gute Gelegenheit führt ihm da und dort ein Pferd vor die Augen,
bei deſſen Anblick er ausruft: das iſt einmal ein Pferd, das kann ich
brauchen! Ebenſo findet der Bildhauer einmal ein ausgezeichnetes Modell,
der Seemaler belauſcht die See in einem entzückenden Momente u. ſ. w.
Dieſelbe Gunſt des Zufalls, unter welcher ein Individuum ſich ungehemmt
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/22>, abgerufen am 16.07.2024.
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