Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
wo nicht durch die verständliche und leicht lesbare Sprache der Rede und
wo nicht durch die verſtändliche und leicht lesbare Sprache der Rede und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0219" n="207"/> wo nicht durch die verſtändliche und leicht lesbare Sprache der Rede und<lb/> That, doch durch ihre ganze Umgebung, Situation ſage, was ſie iſt und<lb/> will, daß damit erſt die Züge der Geſtalt zuſammenwirken und daß wir<lb/> dieß Ganze in Einem Acte, weder vom Innern auf das Aeußere, noch<lb/> von dem Aeußern auf das Innere ſchließend, erſchauen. Sollten wir<lb/> uns aus einer Summe von Anſchauungen einige Haltpunkte, worin wir<lb/> für die Züge der Geſtalt an ſich und in ihrer Trennung von Allem dem,<lb/> was erklärend in ihrer Erſcheinung und Umgebung mitwirkt, entnehmen<lb/> und aufſtellen wollen, ſo iſt dieß unſchädlich, aber auch weiter nichts.<lb/> Auch <hi rendition="#g">Ariſtoteles</hi> ſtellt in ſeinen φυσιογνωμονικὰ, nachdem er aufrichtige<lb/> Zweifel vorausgeſchickt, eine Zahl ſolcher Haltpunkte ſpielend auf. Unbe-<lb/> kannte Menſchen darnach beurtheilen zu wollen, kann keinem Vernünftigen<lb/> mehr einfallen, denn wie man ſie anwenden will, ſo ſtößt man ſogleich<lb/> auf die unendliche Verſtrickung der Züge im Individuum. Von der Ver-<lb/> ſtrickung der angebornen und der durch Wille und Schuld aufgedrückten<lb/> Züge ſehen wir, wie geſagt, dabei überdieß noch ab, aber auch alles<lb/> Angeborne verſtrickt ſich untereinander: die Nationalität, der Ausdruck<lb/> ihres Temperaments, ganzen Naturells mit der Eigenthümlichkeit der<lb/> Familie; alles dieß mit den in §. 332 aufgeführten allgemeinen und<lb/> beſondern ſittlichen Mächten, welche in’s Leibliche zurückgehend mit der<lb/> Zeugung einwurzeln: mit dem Temperament der Familie, z. B. das<lb/> Gepräge des Standes u. ſ. w. Nun verſchlingt ſich aber dieß ſo Ver-<lb/> ſchlungene erſt mit dem unendlich eigenen Temperament, Naturell des<lb/> Einzelnen. Hätte man z. B. noch ſo richtig das angeboren Sittliche oder<lb/> Intelligente gefunden, das gewiſſe Formen der Naſe offenbaren, ſo iſt<lb/> jede Naſe wieder anders; ein leichter Hügel, eine ſanfte Vertiefung,<lb/> kaum merkliche Aufziehung des Naſenflügels gibt der Adlernaſe, der<lb/> Stumpfnaſe eine neue Form und ſo durchaus; ich muß näher beſtimmen<lb/> in’s Unendliche und das geht wie bei jenem Spiel, wo man an einem<lb/> Sandhäufchen ſolange wegnimmt, bis das Hölzchen in der Mitte (die<lb/> aufgeſtellte phyſiognomiſche Kategorie) fällt. Es iſt mit den allgemeinen<lb/> Haltpunkten der Phyſiognomik wie mit den Sprichwörtern. Jedes iſt<lb/> wahr, aber die andern auch und jeder concrete Fall läßt die Anwendung<lb/> der entgegengeſetzteſten Sprichwörter zu; es käme darauf an, abzuwägen,<lb/> wie viel Gewicht in der Summe der auf ihn anwendbaren Sprichwörter<lb/> auf das einzelne Sprichwort falle. Kann man aber dieß, ſo kann man<lb/> es ja erſt, wenn der Fall da iſt, und dann begreift man ihn auch ohne<lb/> Sprichwort. Daher heißt Phyſiognomik treiben, wie Lichtenberg geſagt<lb/> hat, den Sand zählen. Man ſammelt etwa möglichſt viele Bildniſſe, um<lb/> durch vergleichende Erfahrung zum Abſchluſſe zu kommen; allein der<lb/> Bildniſſe gibt es ſo viele, als der Individuen, d. h. unendliche, und ſo<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [207/0219]
wo nicht durch die verſtändliche und leicht lesbare Sprache der Rede und
That, doch durch ihre ganze Umgebung, Situation ſage, was ſie iſt und
will, daß damit erſt die Züge der Geſtalt zuſammenwirken und daß wir
dieß Ganze in Einem Acte, weder vom Innern auf das Aeußere, noch
von dem Aeußern auf das Innere ſchließend, erſchauen. Sollten wir
uns aus einer Summe von Anſchauungen einige Haltpunkte, worin wir
für die Züge der Geſtalt an ſich und in ihrer Trennung von Allem dem,
was erklärend in ihrer Erſcheinung und Umgebung mitwirkt, entnehmen
und aufſtellen wollen, ſo iſt dieß unſchädlich, aber auch weiter nichts.
Auch Ariſtoteles ſtellt in ſeinen φυσιογνωμονικὰ, nachdem er aufrichtige
Zweifel vorausgeſchickt, eine Zahl ſolcher Haltpunkte ſpielend auf. Unbe-
kannte Menſchen darnach beurtheilen zu wollen, kann keinem Vernünftigen
mehr einfallen, denn wie man ſie anwenden will, ſo ſtößt man ſogleich
auf die unendliche Verſtrickung der Züge im Individuum. Von der Ver-
ſtrickung der angebornen und der durch Wille und Schuld aufgedrückten
Züge ſehen wir, wie geſagt, dabei überdieß noch ab, aber auch alles
Angeborne verſtrickt ſich untereinander: die Nationalität, der Ausdruck
ihres Temperaments, ganzen Naturells mit der Eigenthümlichkeit der
Familie; alles dieß mit den in §. 332 aufgeführten allgemeinen und
beſondern ſittlichen Mächten, welche in’s Leibliche zurückgehend mit der
Zeugung einwurzeln: mit dem Temperament der Familie, z. B. das
Gepräge des Standes u. ſ. w. Nun verſchlingt ſich aber dieß ſo Ver-
ſchlungene erſt mit dem unendlich eigenen Temperament, Naturell des
Einzelnen. Hätte man z. B. noch ſo richtig das angeboren Sittliche oder
Intelligente gefunden, das gewiſſe Formen der Naſe offenbaren, ſo iſt
jede Naſe wieder anders; ein leichter Hügel, eine ſanfte Vertiefung,
kaum merkliche Aufziehung des Naſenflügels gibt der Adlernaſe, der
Stumpfnaſe eine neue Form und ſo durchaus; ich muß näher beſtimmen
in’s Unendliche und das geht wie bei jenem Spiel, wo man an einem
Sandhäufchen ſolange wegnimmt, bis das Hölzchen in der Mitte (die
aufgeſtellte phyſiognomiſche Kategorie) fällt. Es iſt mit den allgemeinen
Haltpunkten der Phyſiognomik wie mit den Sprichwörtern. Jedes iſt
wahr, aber die andern auch und jeder concrete Fall läßt die Anwendung
der entgegengeſetzteſten Sprichwörter zu; es käme darauf an, abzuwägen,
wie viel Gewicht in der Summe der auf ihn anwendbaren Sprichwörter
auf das einzelne Sprichwort falle. Kann man aber dieß, ſo kann man
es ja erſt, wenn der Fall da iſt, und dann begreift man ihn auch ohne
Sprichwort. Daher heißt Phyſiognomik treiben, wie Lichtenberg geſagt
hat, den Sand zählen. Man ſammelt etwa möglichſt viele Bildniſſe, um
durch vergleichende Erfahrung zum Abſchluſſe zu kommen; allein der
Bildniſſe gibt es ſo viele, als der Individuen, d. h. unendliche, und ſo
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