Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
das Ungeheure des Vorgangs, man sieht, welches Chaos einbricht, wenn §. 338. Es ist die That und die sie begleitende Rede, worin der Charakter Wir müssen die Physiognomik zweimal aufführen: hier als Deutungs-
das Ungeheure des Vorgangs, man ſieht, welches Chaos einbricht, wenn §. 338. Es iſt die That und die ſie begleitende Rede, worin der Charakter Wir müſſen die Phyſiognomik zweimal aufführen: hier als Deutungs- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0218" n="206"/> das Ungeheure des Vorgangs, man ſieht, welches Chaos einbricht, wenn<lb/> die ſittliche Welt zerrüttet wird. Der Charakter aber wird ſich gegen ſein<lb/> Andringen zu behaupten wiſſen; Lear iſt im ſtrengen Sinne kein Charakter;<lb/> „er war immer ohne Selbſtkenntniß.“ Zudem verſteht ſich, daß wir von<lb/> geiſtig motivirtem Wahnſinn reden und zwar in dem Sinne, daß das<lb/> Motiv eben in dem Vorgange liegt, der den äſthetiſchen Stoff bildet.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 338.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Es iſt die That und die ſie begleitende Rede, worin der Charakter<lb/> ſeinem inneren Leben den wahren Ausdruck gibt. Aeſthetiſch ſind aber dieſe<lb/> nur, ſofern auch die leibliche Geſtalt als ihr Organ der Anſchauung gegeben<lb/> iſt, und dieſe wird, weil ſie die eigene des Charakters iſt, dasſelbe ausſprechen,<lb/> was die Reden und Thaten. Der Charakter ruht auf der Natur-Anlage als<lb/> einer Vorausſetzung (§. 331. 332); vorerſt wird alſo dieſe ſich in der Geſtalt<lb/> ausſprechen und zwar zunächſt in der Ruhe durch ihre feſten Formen (und<lb/> Farben): <hi rendition="#g">Phyſiognomik</hi>. Die Phyſiognomik kann keine Wiſſenſchaft ſein,<lb/> welche Sätze aufſtellt, ſondern nur je in dem Momente, wo das Bild eines<lb/> Charakters der Anſchauung gegeben iſt, faßt dieſe das unberechenbare Inein-<lb/> ander ſeiner Züge zuſammen und ergreift in Einem Acte die angeborne Sinnesart<lb/> mit ihrem leiblichen Ausdruck ebenſo, wie die Natur, ohne eine feſtgeſtellte<lb/> Buchſtabenſchrift, beide Seiten in Einem Acte entwirft.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Wir müſſen die Phyſiognomik zweimal aufführen: hier als Deutungs-<lb/> kunde des Angebornen im Charakter aus den Zügen ſeiner Geſtalt; erſt<lb/> nachdem von der Pathognomik die Rede geweſen ſein wird, haben wir<lb/> von den Zügen zu ſprechen, welche die freie Arbeit des Willens der<lb/> Geſtalt einprägt. Wäre die Phyſiognomik als Syſtem der Wahrſagerei<lb/> auch noch nicht widerlegt, wie ſie es (vorzüglich durch Lichtenberg) iſt,<lb/> ſo dürften wir nur darauf aufmerkſam machen, daß ſchon die Verſchlingung<lb/> der angebornen und der durch Gewohnheit und Willen eingeimpften Züge<lb/> ſie aufhebt. Wir laſſen alſo die Frage nach den letzteren noch bei Seite.<lb/> Auf den dunkeln Punkt zurückzugehen, in welchem die Natur mit Einem<lb/> Schlage das ſittliche und das ſinnliche Bild eines Menſchen anlegt, war<lb/> ein weſentlicher Ausdruck jener Zeit, da Lavater auftrat, da man ſich<lb/> ſehnte, in die Mitte des Lebens, in das volle Ganze einzudringen. Aber<lb/> man überſtürzte ſich, warf ſich in Prophetenton und prahlte mit einer<lb/> verwegenen Menſchenkennerei. Nicht um einen Schluß von dem Aeußeren<lb/> auf das Innere kann es ſich hier handeln, nicht darum, den Charakter<lb/> einer übrigens unbekannten Perſon, die vor uns tritt, aus ihren Zügen<lb/> zu errathen. Die Aeſthetik ſetzt voraus, daß die erſcheinende Individualität,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [206/0218]
das Ungeheure des Vorgangs, man ſieht, welches Chaos einbricht, wenn
die ſittliche Welt zerrüttet wird. Der Charakter aber wird ſich gegen ſein
Andringen zu behaupten wiſſen; Lear iſt im ſtrengen Sinne kein Charakter;
„er war immer ohne Selbſtkenntniß.“ Zudem verſteht ſich, daß wir von
geiſtig motivirtem Wahnſinn reden und zwar in dem Sinne, daß das
Motiv eben in dem Vorgange liegt, der den äſthetiſchen Stoff bildet.
§. 338.
Es iſt die That und die ſie begleitende Rede, worin der Charakter
ſeinem inneren Leben den wahren Ausdruck gibt. Aeſthetiſch ſind aber dieſe
nur, ſofern auch die leibliche Geſtalt als ihr Organ der Anſchauung gegeben
iſt, und dieſe wird, weil ſie die eigene des Charakters iſt, dasſelbe ausſprechen,
was die Reden und Thaten. Der Charakter ruht auf der Natur-Anlage als
einer Vorausſetzung (§. 331. 332); vorerſt wird alſo dieſe ſich in der Geſtalt
ausſprechen und zwar zunächſt in der Ruhe durch ihre feſten Formen (und
Farben): Phyſiognomik. Die Phyſiognomik kann keine Wiſſenſchaft ſein,
welche Sätze aufſtellt, ſondern nur je in dem Momente, wo das Bild eines
Charakters der Anſchauung gegeben iſt, faßt dieſe das unberechenbare Inein-
ander ſeiner Züge zuſammen und ergreift in Einem Acte die angeborne Sinnesart
mit ihrem leiblichen Ausdruck ebenſo, wie die Natur, ohne eine feſtgeſtellte
Buchſtabenſchrift, beide Seiten in Einem Acte entwirft.
Wir müſſen die Phyſiognomik zweimal aufführen: hier als Deutungs-
kunde des Angebornen im Charakter aus den Zügen ſeiner Geſtalt; erſt
nachdem von der Pathognomik die Rede geweſen ſein wird, haben wir
von den Zügen zu ſprechen, welche die freie Arbeit des Willens der
Geſtalt einprägt. Wäre die Phyſiognomik als Syſtem der Wahrſagerei
auch noch nicht widerlegt, wie ſie es (vorzüglich durch Lichtenberg) iſt,
ſo dürften wir nur darauf aufmerkſam machen, daß ſchon die Verſchlingung
der angebornen und der durch Gewohnheit und Willen eingeimpften Züge
ſie aufhebt. Wir laſſen alſo die Frage nach den letzteren noch bei Seite.
Auf den dunkeln Punkt zurückzugehen, in welchem die Natur mit Einem
Schlage das ſittliche und das ſinnliche Bild eines Menſchen anlegt, war
ein weſentlicher Ausdruck jener Zeit, da Lavater auftrat, da man ſich
ſehnte, in die Mitte des Lebens, in das volle Ganze einzudringen. Aber
man überſtürzte ſich, warf ſich in Prophetenton und prahlte mit einer
verwegenen Menſchenkennerei. Nicht um einen Schluß von dem Aeußeren
auf das Innere kann es ſich hier handeln, nicht darum, den Charakter
einer übrigens unbekannten Perſon, die vor uns tritt, aus ihren Zügen
zu errathen. Die Aeſthetik ſetzt voraus, daß die erſcheinende Individualität,
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