geheimnißvolle Macht in den Genius zurück. Die bloße Innerlichkeit ist noch ein Mangel, und während man meinen sollte, dieser Mangel werde eben durch die höhere Objectivität der Kunst getilgt, so ist vielmehr die letzte und höchste Station des in die Welt schimmernden absoluten Geistes die Naturschönheit. Die Zufälligkeit, die Unzuverläßigkeit des stets seine Stelle wechselnden Naturschönen wird zugegeben; wenn aber aus diesem Mangel eben dieß zu folgen scheint, daß der Genius im Künstler das Flüchtige feßle, das Wechselnde befestige, das Zerstreute in den Brenn- punkt des innern Phantasiebildes und dann des Kunstwerks sammle, so sagt Weiße (Aesth. §. 77) umgekehrt, gerade daraus folge, daß, weil es nicht die Naturkräfte selbst seien, die das Schöne als solches wollen, weil die Bedingungen des Schönen nur beiläufig eintreten, ein höherer, absoluter Grund der Schönheit es sein müße, welcher die Naturkräfte in seinen Dienst zwingend, auf der Oberfläche der Natur hin- und wieder- schimmernd und umherziehend sich wechselnde Bezirke auserlese, worin er sich Erscheinung gebe. Die Naturschönheit ist daher keineswegs Vorlage der Kunst im Sinne des bloßen Ausgangspunkts und Stoffs, wie wir dieß Wort verstehen, sondern sie ist wirkliches "Vorbild, Muster oder Endziel" derselben und der künstlerische Genius strebt ihr nach, weil er sich "wesentlich zugleich einer noch höher stehenden, aber andern Sphären angehörenden und deßhalb auf die Kunst nicht unmittelbar zu über- tragenden Schönheit bewußt ist" (S. 427). Näher wird der Vorzug der Naturschönheit vor der Kunstschönheit in ihre Lebendigkeit gesetzt. Wie es mit diesem Vorzuge bestellt sei, wird sich an seinem Orte zeigen.
Wir gehen einen andern Weg und dieser bringt es mit sich, daß der §. bereits auf das weitere System hinausweist, darauf nämlich, daß die Naturschönheit bestimmt ist, sich in die Phantasie und Kunst aufzuheben. Diese Hinausweisung ist durch die zweite der Bedeutungen ausgesprochen, welche der §. in dem Begriffe der Objectivität, unter welchem er das gesammte Naturschöne begreift, unterschieden hat. Das Naturschöne, heißt es, sei bestimmt, Ausgangspunkt und Stoff zu werden. Stoff hat hier den Sinn, der in §. 55 Anm. 2. diesem Worte folgender- maßen zugeschrieben ist: "zweitens bedeutet Stoff die Idee, wie sie irgend einmal, abgesehen von der Kunst, Form angenommen hat; der Künstler findet diesen so weit schon geformten Stoff in der Erfahrung vor und wählt ihn zur Umbildung in die reine Form" u. s. w. Das Naturschöne liegt uns nun zunächst als das Subject der Schönheit vor; es wird sich aber zeigen, daß es im Fortgang zum bloßen Süjet wird, d. h. daß es den Künstler erregt, es nachzubilden, daß es aber in dieser Nachbildung eine Umbildung erfährt, wodurch es Object der Schönheit (denn dieß bedeutet Süjet) Gegenstand, Stoff wird. Hiemit eröffnet sich eine ganz andere
geheimnißvolle Macht in den Genius zurück. Die bloße Innerlichkeit iſt noch ein Mangel, und während man meinen ſollte, dieſer Mangel werde eben durch die höhere Objectivität der Kunſt getilgt, ſo iſt vielmehr die letzte und höchſte Station des in die Welt ſchimmernden abſoluten Geiſtes die Naturſchönheit. Die Zufälligkeit, die Unzuverläßigkeit des ſtets ſeine Stelle wechſelnden Naturſchönen wird zugegeben; wenn aber aus dieſem Mangel eben dieß zu folgen ſcheint, daß der Genius im Künſtler das Flüchtige feßle, das Wechſelnde befeſtige, das Zerſtreute in den Brenn- punkt des innern Phantaſiebildes und dann des Kunſtwerks ſammle, ſo ſagt Weiße (Aeſth. §. 77) umgekehrt, gerade daraus folge, daß, weil es nicht die Naturkräfte ſelbſt ſeien, die das Schöne als ſolches wollen, weil die Bedingungen des Schönen nur beiläufig eintreten, ein höherer, abſoluter Grund der Schönheit es ſein müße, welcher die Naturkräfte in ſeinen Dienſt zwingend, auf der Oberfläche der Natur hin- und wieder- ſchimmernd und umherziehend ſich wechſelnde Bezirke auserleſe, worin er ſich Erſcheinung gebe. Die Naturſchönheit iſt daher keineswegs Vorlage der Kunſt im Sinne des bloßen Ausgangspunkts und Stoffs, wie wir dieß Wort verſtehen, ſondern ſie iſt wirkliches „Vorbild, Muſter oder Endziel“ derſelben und der künſtleriſche Genius ſtrebt ihr nach, weil er ſich „weſentlich zugleich einer noch höher ſtehenden, aber andern Sphären angehörenden und deßhalb auf die Kunſt nicht unmittelbar zu über- tragenden Schönheit bewußt iſt“ (S. 427). Näher wird der Vorzug der Naturſchönheit vor der Kunſtſchönheit in ihre Lebendigkeit geſetzt. Wie es mit dieſem Vorzuge beſtellt ſei, wird ſich an ſeinem Orte zeigen.
Wir gehen einen andern Weg und dieſer bringt es mit ſich, daß der §. bereits auf das weitere Syſtem hinausweist, darauf nämlich, daß die Naturſchönheit beſtimmt iſt, ſich in die Phantaſie und Kunſt aufzuheben. Dieſe Hinausweiſung iſt durch die zweite der Bedeutungen ausgeſprochen, welche der §. in dem Begriffe der Objectivität, unter welchem er das geſammte Naturſchöne begreift, unterſchieden hat. Das Naturſchöne, heißt es, ſei beſtimmt, Ausgangspunkt und Stoff zu werden. Stoff hat hier den Sinn, der in §. 55 Anm. 2. dieſem Worte folgender- maßen zugeſchrieben iſt: „zweitens bedeutet Stoff die Idee, wie ſie irgend einmal, abgeſehen von der Kunſt, Form angenommen hat; der Künſtler findet dieſen ſo weit ſchon geformten Stoff in der Erfahrung vor und wählt ihn zur Umbildung in die reine Form“ u. ſ. w. Das Naturſchöne liegt uns nun zunächſt als das Subject der Schönheit vor; es wird ſich aber zeigen, daß es im Fortgang zum bloßen Süjet wird, d. h. daß es den Künſtler erregt, es nachzubilden, daß es aber in dieſer Nachbildung eine Umbildung erfährt, wodurch es Object der Schönheit (denn dieß bedeutet Süjet) Gegenſtand, Stoff wird. Hiemit eröffnet ſich eine ganz andere
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[8/0020]
geheimnißvolle Macht in den Genius zurück. Die bloße Innerlichkeit iſt
noch ein Mangel, und während man meinen ſollte, dieſer Mangel werde
eben durch die höhere Objectivität der Kunſt getilgt, ſo iſt vielmehr die
letzte und höchſte Station des in die Welt ſchimmernden abſoluten Geiſtes
die Naturſchönheit. Die Zufälligkeit, die Unzuverläßigkeit des ſtets ſeine
Stelle wechſelnden Naturſchönen wird zugegeben; wenn aber aus dieſem
Mangel eben dieß zu folgen ſcheint, daß der Genius im Künſtler das
Flüchtige feßle, das Wechſelnde befeſtige, das Zerſtreute in den Brenn-
punkt des innern Phantaſiebildes und dann des Kunſtwerks ſammle, ſo
ſagt Weiße (Aeſth. §. 77) umgekehrt, gerade daraus folge, daß, weil
es nicht die Naturkräfte ſelbſt ſeien, die das Schöne als ſolches wollen,
weil die Bedingungen des Schönen nur beiläufig eintreten, ein höherer,
abſoluter Grund der Schönheit es ſein müße, welcher die Naturkräfte in
ſeinen Dienſt zwingend, auf der Oberfläche der Natur hin- und wieder-
ſchimmernd und umherziehend ſich wechſelnde Bezirke auserleſe, worin er
ſich Erſcheinung gebe. Die Naturſchönheit iſt daher keineswegs Vorlage
der Kunſt im Sinne des bloßen Ausgangspunkts und Stoffs, wie wir
dieß Wort verſtehen, ſondern ſie iſt wirkliches „Vorbild, Muſter oder
Endziel“ derſelben und der künſtleriſche Genius ſtrebt ihr nach, weil er
ſich „weſentlich zugleich einer noch höher ſtehenden, aber andern Sphären
angehörenden und deßhalb auf die Kunſt nicht unmittelbar zu über-
tragenden Schönheit bewußt iſt“ (S. 427). Näher wird der Vorzug der
Naturſchönheit vor der Kunſtſchönheit in ihre Lebendigkeit geſetzt. Wie
es mit dieſem Vorzuge beſtellt ſei, wird ſich an ſeinem Orte zeigen.
Wir gehen einen andern Weg und dieſer bringt es mit ſich, daß
der §. bereits auf das weitere Syſtem hinausweist, darauf nämlich,
daß die Naturſchönheit beſtimmt iſt, ſich in die Phantaſie und Kunſt
aufzuheben. Dieſe Hinausweiſung iſt durch die zweite der Bedeutungen
ausgeſprochen, welche der §. in dem Begriffe der Objectivität, unter
welchem er das geſammte Naturſchöne begreift, unterſchieden hat. Das
Naturſchöne, heißt es, ſei beſtimmt, Ausgangspunkt und Stoff zu werden.
Stoff hat hier den Sinn, der in §. 55 Anm. 2. dieſem Worte folgender-
maßen zugeſchrieben iſt: „zweitens bedeutet Stoff die Idee, wie ſie irgend
einmal, abgeſehen von der Kunſt, Form angenommen hat; der Künſtler
findet dieſen ſo weit ſchon geformten Stoff in der Erfahrung vor und
wählt ihn zur Umbildung in die reine Form“ u. ſ. w. Das Naturſchöne
liegt uns nun zunächſt als das Subject der Schönheit vor; es wird ſich aber
zeigen, daß es im Fortgang zum bloßen Süjet wird, d. h. daß es den
Künſtler erregt, es nachzubilden, daß es aber in dieſer Nachbildung eine
Umbildung erfährt, wodurch es Object der Schönheit (denn dieß bedeutet
Süjet) Gegenſtand, Stoff wird. Hiemit eröffnet ſich eine ganz andere
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/20>, abgerufen am 16.07.2024.
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