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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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glühende Pracht, betäubender Duft hervor und stellt dem strengen Maaße die
Maaßlosigkeit an die Seite.

1. Hätten wir schon die geschichtlichen Hauptformen der Phantasie und die
verschiedenen Künste dargestellt, so könnte der hier zuerst aufgeführte
Pflanzentypus mit der orientalischen Phantasie verglichen und durch das
Prädicat des Architektonischen bezeichnet werden. Man erkennt hier sogleich
die Pflanzenwelt der heißen Länder und der Charakter überhaupt, dann
die Kunstrichtung des Menschen, der von ihr umgeben ist, wird wesentlich
als durch sie mitbestimmt erscheinen. Die Formen dieser Vegetation zeichnen
sich mit geometrischer Schärfe von dem tiefen Himmel ab, gemessener Ernst,
krystallische, Auge und Sinn bindende Bestimmtheit läßt die Subjectivität
des Beschauers, die Wogen der vertieften Empfindungen nicht aufkommen:
es fehlt nicht nur die Romantik, sondern selbst der weichere Ernst der
Sinnesweise, die wir plastisch nennen. Dadurch bestimmt sich der allgemeine
Charakter des Erhabenen, der in der ungemeinen Größe dieser Pflanzen
liegt. Das Erhabene überwältigt und erhebt zugleich das befreite Gemüth;
diese doppelte Wirkung üben auch die Riesen der tropischen Vegetation
aus, aber das Moment der Befreiung in derselben beschränkt sich durch
die Strenge der Form, in der Erhebung selbst liegt etwas Despotisches,
Bannendes. Zuerst sind hier als monokotyledonische Formen, deren
Physiognomie meist den Charakter des Erhabenen in der Form aufstrebender
Linie trägt, die Lilien und Palmen aufzuführen. Unter jenen mag, obwohl
gewöhnlich nicht baumartig gebildet, die Aloe genannt werden, wie sie
aus der vollen, doch strengen Rose ihrer bläulichgrünen, dicken, fleischigen,
in einen langen Dorn endigenden Blätter ihren hohen Stengel hinauf-
schießen läßt. Anders erscheint die Banane mit dem ausgebreiteten Busche
ihrer ungeheuren, dünnen, seidenartig glänzenden Blätter, wobei jedoch
der aufsteigende Stengel fehlt. In der größten Pracht tritt dagegen
der Monokotyledonencharakter als der eines geradlinigten Aufschießens bei
verhältnißmäßig dünnem Stamme vorzüglich in den Palmen auf, welche den
schlanken Stamm bis zu 180 Fuß Höhe hinauftreiben, um ihn dann --
ohne Verästung, deren Mangel bei den Monokotyledonen wesentlich das
Gebundene, die Abwesenheit des freieren Formspiels ausdrückt -- in den
königlichen Blätterstrauß auszubreiten. Die Blätter sind theils gefiedert,
theils fächerförmig und hierin erscheint nun namentlich jene krystallische
Symmetrie, welche von diesem ganzen Typus ausgesagt wird. So gestaltete
Blätter bewirken immer eine große Durchsichtigkeit der Baumkrone und
wenn diese bei aller Hoheit dem Baume etwas Leichtes gibt, so dient sie
doch zugleich besonders, auf dem Grunde des durchscheinenden Himmels
die Umrisse in ihrer gemessenen Schärfe, in ihrer gezählteren Symmetrie zu

glühende Pracht, betäubender Duft hervor und ſtellt dem ſtrengen Maaße die
Maaßloſigkeit an die Seite.

1. Hätten wir ſchon die geſchichtlichen Hauptformen der Phantaſie und die
verſchiedenen Künſte dargeſtellt, ſo könnte der hier zuerſt aufgeführte
Pflanzentypus mit der orientaliſchen Phantaſie verglichen und durch das
Prädicat des Architektoniſchen bezeichnet werden. Man erkennt hier ſogleich
die Pflanzenwelt der heißen Länder und der Charakter überhaupt, dann
die Kunſtrichtung des Menſchen, der von ihr umgeben iſt, wird weſentlich
als durch ſie mitbeſtimmt erſcheinen. Die Formen dieſer Vegetation zeichnen
ſich mit geometriſcher Schärfe von dem tiefen Himmel ab, gemeſſener Ernſt,
kryſtalliſche, Auge und Sinn bindende Beſtimmtheit läßt die Subjectivität
des Beſchauers, die Wogen der vertieften Empfindungen nicht aufkommen:
es fehlt nicht nur die Romantik, ſondern ſelbſt der weichere Ernſt der
Sinnesweiſe, die wir plaſtiſch nennen. Dadurch beſtimmt ſich der allgemeine
Charakter des Erhabenen, der in der ungemeinen Größe dieſer Pflanzen
liegt. Das Erhabene überwältigt und erhebt zugleich das befreite Gemüth;
dieſe doppelte Wirkung üben auch die Rieſen der tropiſchen Vegetation
aus, aber das Moment der Befreiung in derſelben beſchränkt ſich durch
die Strenge der Form, in der Erhebung ſelbſt liegt etwas Deſpotiſches,
Bannendes. Zuerſt ſind hier als monokotyledoniſche Formen, deren
Phyſiognomie meiſt den Charakter des Erhabenen in der Form aufſtrebender
Linie trägt, die Lilien und Palmen aufzuführen. Unter jenen mag, obwohl
gewöhnlich nicht baumartig gebildet, die Aloe genannt werden, wie ſie
aus der vollen, doch ſtrengen Roſe ihrer bläulichgrünen, dicken, fleiſchigen,
in einen langen Dorn endigenden Blätter ihren hohen Stengel hinauf-
ſchießen läßt. Anders erſcheint die Banane mit dem ausgebreiteten Buſche
ihrer ungeheuren, dünnen, ſeidenartig glänzenden Blätter, wobei jedoch
der aufſteigende Stengel fehlt. In der größten Pracht tritt dagegen
der Monokotyledonencharakter als der eines geradlinigten Aufſchießens bei
verhältnißmäßig dünnem Stamme vorzüglich in den Palmen auf, welche den
ſchlanken Stamm bis zu 180 Fuß Höhe hinauftreiben, um ihn dann —
ohne Veräſtung, deren Mangel bei den Monokotyledonen weſentlich das
Gebundene, die Abweſenheit des freieren Formſpiels ausdrückt — in den
königlichen Blätterſtrauß auszubreiten. Die Blätter ſind theils gefiedert,
theils fächerförmig und hierin erſcheint nun namentlich jene kryſtalliſche
Symmetrie, welche von dieſem ganzen Typus ausgeſagt wird. So geſtaltete
Blätter bewirken immer eine große Durchſichtigkeit der Baumkrone und
wenn dieſe bei aller Hoheit dem Baume etwas Leichtes gibt, ſo dient ſie
doch zugleich beſonders, auf dem Grunde des durchſcheinenden Himmels
die Umriſſe in ihrer gemeſſenen Schärfe, in ihrer gezählteren Symmetrie zu

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[93/0105] glühende Pracht, betäubender Duft hervor und ſtellt dem ſtrengen Maaße die Maaßloſigkeit an die Seite. 1. Hätten wir ſchon die geſchichtlichen Hauptformen der Phantaſie und die verſchiedenen Künſte dargeſtellt, ſo könnte der hier zuerſt aufgeführte Pflanzentypus mit der orientaliſchen Phantaſie verglichen und durch das Prädicat des Architektoniſchen bezeichnet werden. Man erkennt hier ſogleich die Pflanzenwelt der heißen Länder und der Charakter überhaupt, dann die Kunſtrichtung des Menſchen, der von ihr umgeben iſt, wird weſentlich als durch ſie mitbeſtimmt erſcheinen. Die Formen dieſer Vegetation zeichnen ſich mit geometriſcher Schärfe von dem tiefen Himmel ab, gemeſſener Ernſt, kryſtalliſche, Auge und Sinn bindende Beſtimmtheit läßt die Subjectivität des Beſchauers, die Wogen der vertieften Empfindungen nicht aufkommen: es fehlt nicht nur die Romantik, ſondern ſelbſt der weichere Ernſt der Sinnesweiſe, die wir plaſtiſch nennen. Dadurch beſtimmt ſich der allgemeine Charakter des Erhabenen, der in der ungemeinen Größe dieſer Pflanzen liegt. Das Erhabene überwältigt und erhebt zugleich das befreite Gemüth; dieſe doppelte Wirkung üben auch die Rieſen der tropiſchen Vegetation aus, aber das Moment der Befreiung in derſelben beſchränkt ſich durch die Strenge der Form, in der Erhebung ſelbſt liegt etwas Deſpotiſches, Bannendes. Zuerſt ſind hier als monokotyledoniſche Formen, deren Phyſiognomie meiſt den Charakter des Erhabenen in der Form aufſtrebender Linie trägt, die Lilien und Palmen aufzuführen. Unter jenen mag, obwohl gewöhnlich nicht baumartig gebildet, die Aloe genannt werden, wie ſie aus der vollen, doch ſtrengen Roſe ihrer bläulichgrünen, dicken, fleiſchigen, in einen langen Dorn endigenden Blätter ihren hohen Stengel hinauf- ſchießen läßt. Anders erſcheint die Banane mit dem ausgebreiteten Buſche ihrer ungeheuren, dünnen, ſeidenartig glänzenden Blätter, wobei jedoch der aufſteigende Stengel fehlt. In der größten Pracht tritt dagegen der Monokotyledonencharakter als der eines geradlinigten Aufſchießens bei verhältnißmäßig dünnem Stamme vorzüglich in den Palmen auf, welche den ſchlanken Stamm bis zu 180 Fuß Höhe hinauftreiben, um ihn dann — ohne Veräſtung, deren Mangel bei den Monokotyledonen weſentlich das Gebundene, die Abweſenheit des freieren Formſpiels ausdrückt — in den königlichen Blätterſtrauß auszubreiten. Die Blätter ſind theils gefiedert, theils fächerförmig und hierin erſcheint nun namentlich jene kryſtalliſche Symmetrie, welche von dieſem ganzen Typus ausgeſagt wird. So geſtaltete Blätter bewirken immer eine große Durchſichtigkeit der Baumkrone und wenn dieſe bei aller Hoheit dem Baume etwas Leichtes gibt, ſo dient ſie doch zugleich beſonders, auf dem Grunde des durchſcheinenden Himmels die Umriſſe in ihrer gemeſſenen Schärfe, in ihrer gezählteren Symmetrie zu

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/105>, abgerufen am 27.04.2024.