Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Widerspruch mit der Lage des Handelnden steht; der Unverstand ist also
Zweckwidrigkeit. So gefaßt eignet sich die Bestimmung, wie sich zeigen
wird, nicht zur allgemeinen Definition, auf den vorliegenden Kreis kann
sie aber angewandt werden, da der Begriff der Zweckthätigkeit allerdings
auch da in Wahrheit gilt, wo kein Bewußtseyn ist (vergl. §. 43). Wo
aber Zweckthätigkeit in der Natur concentrisch im organischen Gebilde sich
zusammenfaßt und zwar in der höheren Weise selbständigen Lebens wie
im Thiere, da ist auch Lebensgefühl, somit Gefühl des Zwecks vorhanden,
und von da ist der Schritt zum Bewußtseyn des Zwecks zwar an sich
immer noch groß genug, aber verglichen mit der Kluft, die das unlebendige
Naturreich und auch die gefühllose Pflanze vom Bewußtseyn trennt, so
klein, daß das zum Komischen erforderliche Leihen ganz ohne Anstoß, ohne
ausdrücklichen Act, ohne vergleichendes Witzwort unvermerkt sich einstellt.
Daher können Thiere allerdings komisch werden, doch nur die klügeren,
wie J. Paul (a. a. O. §. 28) richtig bemerkt. Es kann hier Einiges
vorweggenommen werden, um auf diesen Punkt nicht öfter zurückkommen
zu müssen. Hieher gehört nämlich eigentlich nur die Gestalt der Thiere
und ihre physisch nothwendigen Bewegungen; das Lebensgefühl, von dem hier
die Rede ist, gilt also noch nicht von einzelnen Verrichtungen für bestimmt
gefühlte Bedürfnisse, sondern es ist zunächst nur das allgemeine Selbst-
gefühl des Lebens. Die Thiere können nun schon in dieser Beziehung
komisch erscheinen, weil ihr Lebensgefühl uns überhaupt Veranlassung gibt,
ihnen einen Menschen unterzuschieben und diese Unterschiebung sofort auch
auf den reinen, ihre Gestalt bauenden, ihren Körper bewegenden Gattungs-
typus, als wäre er mit Bewußtseyn schaffend und bewegend, überzutragen.
Aber die Thiere thun Vieles, was ihrem bestimmteren Instinkte angehört
und als wirkliches Analogon geistiger Gedanken und Zwecke erscheint,
und davon wäre eigentlich erst zu sprechen, wenn von solchen die Rede
seyn wird. Sie wenden List an, sie schmeicheln, sie stehlen, sie suchen
sich Schlägen zu entziehen u. s. w. Dies veranlaßt, ihnen in tieferer
Weise einen Menschen unterzulegen, und auf dieser Folie erschienen sie
höchst komisch, wenn sie irren. Ruge (a. a. O. S. 131 u. s. w.) erzählt
passende Fälle. Dazu gehört auch der Hund, der vor einem Speisen-
schranke in einem Zimmer, wo kein Mensch gegenwärtig ist, aufwartet.
Anders verhält es sich mit Unanständigkeiten, welche Thiere begehen; hier
folgen sie nicht dem höheren Instincte, sondern der groben Nothdurft,
aber weil sie sonst klüger sind, so legt man ihnen unter, sie hätten
um den Anstand wissen können, und dadurch erscheinen jene komisch.

23*

Widerſpruch mit der Lage des Handelnden ſteht; der Unverſtand iſt alſo
Zweckwidrigkeit. So gefaßt eignet ſich die Beſtimmung, wie ſich zeigen
wird, nicht zur allgemeinen Definition, auf den vorliegenden Kreis kann
ſie aber angewandt werden, da der Begriff der Zweckthätigkeit allerdings
auch da in Wahrheit gilt, wo kein Bewußtſeyn iſt (vergl. §. 43). Wo
aber Zweckthätigkeit in der Natur concentriſch im organiſchen Gebilde ſich
zuſammenfaßt und zwar in der höheren Weiſe ſelbſtändigen Lebens wie
im Thiere, da iſt auch Lebensgefühl, ſomit Gefühl des Zwecks vorhanden,
und von da iſt der Schritt zum Bewußtſeyn des Zwecks zwar an ſich
immer noch groß genug, aber verglichen mit der Kluft, die das unlebendige
Naturreich und auch die gefühlloſe Pflanze vom Bewußtſeyn trennt, ſo
klein, daß das zum Komiſchen erforderliche Leihen ganz ohne Anſtoß, ohne
ausdrücklichen Act, ohne vergleichendes Witzwort unvermerkt ſich einſtellt.
Daher können Thiere allerdings komiſch werden, doch nur die klügeren,
wie J. Paul (a. a. O. §. 28) richtig bemerkt. Es kann hier Einiges
vorweggenommen werden, um auf dieſen Punkt nicht öfter zurückkommen
zu müſſen. Hieher gehört nämlich eigentlich nur die Geſtalt der Thiere
und ihre phyſiſch nothwendigen Bewegungen; das Lebensgefühl, von dem hier
die Rede iſt, gilt alſo noch nicht von einzelnen Verrichtungen für beſtimmt
gefühlte Bedürfniſſe, ſondern es iſt zunächſt nur das allgemeine Selbſt-
gefühl des Lebens. Die Thiere können nun ſchon in dieſer Beziehung
komiſch erſcheinen, weil ihr Lebensgefühl uns überhaupt Veranlaſſung gibt,
ihnen einen Menſchen unterzuſchieben und dieſe Unterſchiebung ſofort auch
auf den reinen, ihre Geſtalt bauenden, ihren Körper bewegenden Gattungs-
typus, als wäre er mit Bewußtſeyn ſchaffend und bewegend, überzutragen.
Aber die Thiere thun Vieles, was ihrem beſtimmteren Inſtinkte angehört
und als wirkliches Analogon geiſtiger Gedanken und Zwecke erſcheint,
und davon wäre eigentlich erſt zu ſprechen, wenn von ſolchen die Rede
ſeyn wird. Sie wenden Liſt an, ſie ſchmeicheln, ſie ſtehlen, ſie ſuchen
ſich Schlägen zu entziehen u. ſ. w. Dies veranlaßt, ihnen in tieferer
Weiſe einen Menſchen unterzulegen, und auf dieſer Folie erſchienen ſie
höchſt komiſch, wenn ſie irren. Ruge (a. a. O. S. 131 u. ſ. w.) erzählt
paſſende Fälle. Dazu gehört auch der Hund, der vor einem Speiſen-
ſchranke in einem Zimmer, wo kein Menſch gegenwärtig iſt, aufwartet.
Anders verhält es ſich mit Unanſtändigkeiten, welche Thiere begehen; hier
folgen ſie nicht dem höheren Inſtincte, ſondern der groben Nothdurft,
aber weil ſie ſonſt klüger ſind, ſo legt man ihnen unter, ſie hätten
um den Anſtand wiſſen können, und dadurch erſcheinen jene komiſch.

23*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0369" n="355"/>
Wider&#x017F;pruch mit der Lage des Handelnden &#x017F;teht; der Unver&#x017F;tand i&#x017F;t al&#x017F;o<lb/>
Zweckwidrigkeit. So gefaßt eignet &#x017F;ich die Be&#x017F;timmung, wie &#x017F;ich zeigen<lb/>
wird, nicht zur allgemeinen Definition, auf den vorliegenden Kreis kann<lb/>
&#x017F;ie aber angewandt werden, da der Begriff der Zweckthätigkeit allerdings<lb/>
auch da in Wahrheit gilt, wo kein Bewußt&#x017F;eyn i&#x017F;t (vergl. §. 43). Wo<lb/>
aber Zweckthätigkeit in der Natur concentri&#x017F;ch im organi&#x017F;chen Gebilde &#x017F;ich<lb/>
zu&#x017F;ammenfaßt und zwar in der höheren Wei&#x017F;e &#x017F;elb&#x017F;tändigen Lebens wie<lb/>
im Thiere, da i&#x017F;t auch Lebensgefühl, &#x017F;omit Gefühl des Zwecks vorhanden,<lb/>
und von da i&#x017F;t der Schritt zum Bewußt&#x017F;eyn des Zwecks zwar an &#x017F;ich<lb/>
immer noch groß genug, aber verglichen mit der Kluft, die das unlebendige<lb/>
Naturreich und auch die gefühllo&#x017F;e Pflanze vom Bewußt&#x017F;eyn trennt, &#x017F;o<lb/>
klein, daß das zum Komi&#x017F;chen erforderliche Leihen ganz ohne An&#x017F;toß, ohne<lb/>
ausdrücklichen Act, ohne vergleichendes Witzwort unvermerkt &#x017F;ich ein&#x017F;tellt.<lb/>
Daher können Thiere allerdings komi&#x017F;ch werden, doch nur die klügeren,<lb/>
wie J. <hi rendition="#g">Paul</hi> (a. a. O. §. 28) richtig bemerkt. Es kann hier Einiges<lb/>
vorweggenommen werden, um auf die&#x017F;en Punkt nicht öfter zurückkommen<lb/>
zu mü&#x017F;&#x017F;en. Hieher gehört nämlich eigentlich nur die Ge&#x017F;talt der Thiere<lb/>
und ihre phy&#x017F;i&#x017F;ch nothwendigen Bewegungen; das Lebensgefühl, von dem hier<lb/>
die Rede i&#x017F;t, gilt al&#x017F;o noch nicht von einzelnen Verrichtungen für be&#x017F;timmt<lb/>
gefühlte Bedürfni&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;ondern es i&#x017F;t zunäch&#x017F;t nur das allgemeine Selb&#x017F;t-<lb/>
gefühl des Lebens. Die Thiere können nun &#x017F;chon in die&#x017F;er Beziehung<lb/>
komi&#x017F;ch er&#x017F;cheinen, weil ihr Lebensgefühl uns überhaupt Veranla&#x017F;&#x017F;ung gibt,<lb/>
ihnen einen Men&#x017F;chen unterzu&#x017F;chieben und die&#x017F;e Unter&#x017F;chiebung &#x017F;ofort auch<lb/>
auf den reinen, ihre Ge&#x017F;talt bauenden, ihren Körper bewegenden Gattungs-<lb/>
typus, als wäre er mit Bewußt&#x017F;eyn &#x017F;chaffend und bewegend, überzutragen.<lb/>
Aber die Thiere thun Vieles, was ihrem be&#x017F;timmteren In&#x017F;tinkte angehört<lb/>
und als wirkliches Analogon gei&#x017F;tiger Gedanken und Zwecke er&#x017F;cheint,<lb/>
und davon wäre eigentlich er&#x017F;t zu &#x017F;prechen, wenn von &#x017F;olchen die Rede<lb/>
&#x017F;eyn wird. Sie wenden Li&#x017F;t an, &#x017F;ie &#x017F;chmeicheln, &#x017F;ie &#x017F;tehlen, &#x017F;ie &#x017F;uchen<lb/>
&#x017F;ich Schlägen zu entziehen u. &#x017F;. w. Dies veranlaßt, ihnen in tieferer<lb/>
Wei&#x017F;e einen Men&#x017F;chen unterzulegen, und auf die&#x017F;er Folie er&#x017F;chienen &#x017F;ie<lb/>
höch&#x017F;t komi&#x017F;ch, wenn &#x017F;ie irren. <hi rendition="#g">Ruge</hi> (a. a. O. S. 131 u. &#x017F;. w.) erzählt<lb/>
pa&#x017F;&#x017F;ende Fälle. Dazu gehört auch der Hund, der vor einem Spei&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chranke in einem Zimmer, wo kein Men&#x017F;ch gegenwärtig i&#x017F;t, aufwartet.<lb/>
Anders verhält es &#x017F;ich mit Unan&#x017F;tändigkeiten, welche Thiere begehen; hier<lb/>
folgen &#x017F;ie nicht dem höheren In&#x017F;tincte, &#x017F;ondern der groben Nothdurft,<lb/>
aber weil &#x017F;ie <hi rendition="#g">&#x017F;on&#x017F;t</hi> klüger &#x017F;ind, &#x017F;o legt man ihnen unter, &#x017F;ie hätten<lb/>
um den An&#x017F;tand wi&#x017F;&#x017F;en können, und dadurch er&#x017F;cheinen jene komi&#x017F;ch.</hi><lb/>
                  <fw place="bottom" type="sig">23*</fw><lb/>
                </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[355/0369] Widerſpruch mit der Lage des Handelnden ſteht; der Unverſtand iſt alſo Zweckwidrigkeit. So gefaßt eignet ſich die Beſtimmung, wie ſich zeigen wird, nicht zur allgemeinen Definition, auf den vorliegenden Kreis kann ſie aber angewandt werden, da der Begriff der Zweckthätigkeit allerdings auch da in Wahrheit gilt, wo kein Bewußtſeyn iſt (vergl. §. 43). Wo aber Zweckthätigkeit in der Natur concentriſch im organiſchen Gebilde ſich zuſammenfaßt und zwar in der höheren Weiſe ſelbſtändigen Lebens wie im Thiere, da iſt auch Lebensgefühl, ſomit Gefühl des Zwecks vorhanden, und von da iſt der Schritt zum Bewußtſeyn des Zwecks zwar an ſich immer noch groß genug, aber verglichen mit der Kluft, die das unlebendige Naturreich und auch die gefühlloſe Pflanze vom Bewußtſeyn trennt, ſo klein, daß das zum Komiſchen erforderliche Leihen ganz ohne Anſtoß, ohne ausdrücklichen Act, ohne vergleichendes Witzwort unvermerkt ſich einſtellt. Daher können Thiere allerdings komiſch werden, doch nur die klügeren, wie J. Paul (a. a. O. §. 28) richtig bemerkt. Es kann hier Einiges vorweggenommen werden, um auf dieſen Punkt nicht öfter zurückkommen zu müſſen. Hieher gehört nämlich eigentlich nur die Geſtalt der Thiere und ihre phyſiſch nothwendigen Bewegungen; das Lebensgefühl, von dem hier die Rede iſt, gilt alſo noch nicht von einzelnen Verrichtungen für beſtimmt gefühlte Bedürfniſſe, ſondern es iſt zunächſt nur das allgemeine Selbſt- gefühl des Lebens. Die Thiere können nun ſchon in dieſer Beziehung komiſch erſcheinen, weil ihr Lebensgefühl uns überhaupt Veranlaſſung gibt, ihnen einen Menſchen unterzuſchieben und dieſe Unterſchiebung ſofort auch auf den reinen, ihre Geſtalt bauenden, ihren Körper bewegenden Gattungs- typus, als wäre er mit Bewußtſeyn ſchaffend und bewegend, überzutragen. Aber die Thiere thun Vieles, was ihrem beſtimmteren Inſtinkte angehört und als wirkliches Analogon geiſtiger Gedanken und Zwecke erſcheint, und davon wäre eigentlich erſt zu ſprechen, wenn von ſolchen die Rede ſeyn wird. Sie wenden Liſt an, ſie ſchmeicheln, ſie ſtehlen, ſie ſuchen ſich Schlägen zu entziehen u. ſ. w. Dies veranlaßt, ihnen in tieferer Weiſe einen Menſchen unterzulegen, und auf dieſer Folie erſchienen ſie höchſt komiſch, wenn ſie irren. Ruge (a. a. O. S. 131 u. ſ. w.) erzählt paſſende Fälle. Dazu gehört auch der Hund, der vor einem Speiſen- ſchranke in einem Zimmer, wo kein Menſch gegenwärtig iſt, aufwartet. Anders verhält es ſich mit Unanſtändigkeiten, welche Thiere begehen; hier folgen ſie nicht dem höheren Inſtincte, ſondern der groben Nothdurft, aber weil ſie ſonſt klüger ſind, ſo legt man ihnen unter, ſie hätten um den Anſtand wiſſen können, und dadurch erſcheinen jene komiſch. 23*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/369
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/369>, abgerufen am 23.11.2024.