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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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2. Die organische Kraft kommt zuerst in Betracht als Gestalt. Es
könnte scheinen, hier müsse von der Schönheit ausgegangen und die Häß-
lichkeit als Entstellung dieser, nicht aber der Erhabenheit als Kraft, gefaßt
werden. Allein wie vom Erhabenen (§. 87) galt, daß durch die ver-
gleichende Messung Vieles erhaben wird, was sonst schön wäre, ebenso
gilt hier, daß durch den Absturz in Entstellung Vieles als eine dem
Komischen verfallende Erhabenheit erscheint, was sonst unter dem Ge-
sichtspunkte der Schönheit angeschaut worden wäre. Es tritt etwas ein,
was die bauende Natur hindert, ihren Zweck zu vollführen: durch dieses
Hinderniß erscheint diese als eine Kraft, welche zwingen möchte, wenn
sie könnte. So nennen wir die aufrechte Stellung des Menschen an sich
schön, wenn wir sie aber mit der horizontalen thierischen vergleichen,
erhaben. Ist nun eine menschliche Gestalt nicht aufrecht, sondern schief,
gebückt, u. s. w., so entbinden sich thierische Merkmale und im Wider-
spruch mit diesem Sinken in's Thierische ist also jetzt die ursprüngliche
Intention der Gestalt eine dem Komischen verfallende Erhabenheit. Das
häßliche Glied sollte gehorchen, emanzipirt sich aber, wird frei wie Bar-
dolfs Nase, die in Falstaffs Vergleichung als ein mit unendlichem
Sekte zu ernährender selbständiger Salamander erscheint, oder wie in
Haugs Epigramm Herrn Wahls große Nase, die Stundenlang zum
Königsthor in Stuttgart hereinkommt, bis sich endlich ein kleiner, an sie
angewachsener Mann als ihr Besitzer erweist: der ganze Mann, dessen
Gestalt dies besondere Glied beherrschen sollte, ist nun die Erhabenheit,
die ihren Zweck nicht durchführen kann, sondern im ersten Beispiel dem
Chemischen und Thierischen, im zweiten dem Mechanischen oder Vege-
tabilischen verfällt.

3. Ungeschickte Bewegung, die ihr Ziel verfehlt, kommt hier in Be-
tracht, sofern noch von keinem eigentlich geistigen Zwecke die Rede ist,
sondern einem instinktmäßigen Thun, wie Gehen, Langen, Athmen
u. s. w.; denn sonst kämen wir über das Gebiet der blosen Kraft hinaus.
Selbst Bewegungen einer edleren Thiergattung erscheinen komisch, wenn sie
einer unedleren ähnlich sind, wie z. B. Bocks- und Kuh-Beine beim
Pferde. Strenger ist der Contrast in der menschlichen Bewegung, wenn
sie von ihrem Organe nicht Besitz zu nehmen wußte, sondern in das Rudern,
Wanken, Schleichen, Hüpfen von Thieren oder in das ganz Maschinen-
Artige sinkt. Der Pierrot stellt alle diese Uebel mit komischer Absicht dar.

4. J. Paul definirt das Komische als sinnlich angeschauten Un-
verstand (a. a. O. §. 28) und beschreibt es als eine Handlung, die im

2. Die organiſche Kraft kommt zuerſt in Betracht als Geſtalt. Es
könnte ſcheinen, hier müſſe von der Schönheit ausgegangen und die Häß-
lichkeit als Entſtellung dieſer, nicht aber der Erhabenheit als Kraft, gefaßt
werden. Allein wie vom Erhabenen (§. 87) galt, daß durch die ver-
gleichende Meſſung Vieles erhaben wird, was ſonſt ſchön wäre, ebenſo
gilt hier, daß durch den Abſturz in Entſtellung Vieles als eine dem
Komiſchen verfallende Erhabenheit erſcheint, was ſonſt unter dem Ge-
ſichtspunkte der Schönheit angeſchaut worden wäre. Es tritt etwas ein,
was die bauende Natur hindert, ihren Zweck zu vollführen: durch dieſes
Hinderniß erſcheint dieſe als eine Kraft, welche zwingen möchte, wenn
ſie könnte. So nennen wir die aufrechte Stellung des Menſchen an ſich
ſchön, wenn wir ſie aber mit der horizontalen thieriſchen vergleichen,
erhaben. Iſt nun eine menſchliche Geſtalt nicht aufrecht, ſondern ſchief,
gebückt, u. ſ. w., ſo entbinden ſich thieriſche Merkmale und im Wider-
ſpruch mit dieſem Sinken in’s Thieriſche iſt alſo jetzt die urſprüngliche
Intention der Geſtalt eine dem Komiſchen verfallende Erhabenheit. Das
häßliche Glied ſollte gehorchen, emanzipirt ſich aber, wird frei wie Bar-
dolfs Naſe, die in Falſtaffs Vergleichung als ein mit unendlichem
Sekte zu ernährender ſelbſtändiger Salamander erſcheint, oder wie in
Haugs Epigramm Herrn Wahls große Naſe, die Stundenlang zum
Königsthor in Stuttgart hereinkommt, bis ſich endlich ein kleiner, an ſie
angewachſener Mann als ihr Beſitzer erweist: der ganze Mann, deſſen
Geſtalt dies beſondere Glied beherrſchen ſollte, iſt nun die Erhabenheit,
die ihren Zweck nicht durchführen kann, ſondern im erſten Beiſpiel dem
Chemiſchen und Thieriſchen, im zweiten dem Mechaniſchen oder Vege-
tabiliſchen verfällt.

3. Ungeſchickte Bewegung, die ihr Ziel verfehlt, kommt hier in Be-
tracht, ſofern noch von keinem eigentlich geiſtigen Zwecke die Rede iſt,
ſondern einem inſtinktmäßigen Thun, wie Gehen, Langen, Athmen
u. ſ. w.; denn ſonſt kämen wir über das Gebiet der bloſen Kraft hinaus.
Selbſt Bewegungen einer edleren Thiergattung erſcheinen komiſch, wenn ſie
einer unedleren ähnlich ſind, wie z. B. Bocks- und Kuh-Beine beim
Pferde. Strenger iſt der Contraſt in der menſchlichen Bewegung, wenn
ſie von ihrem Organe nicht Beſitz zu nehmen wußte, ſondern in das Rudern,
Wanken, Schleichen, Hüpfen von Thieren oder in das ganz Maſchinen-
Artige ſinkt. Der Pierrot ſtellt alle dieſe Uebel mit komiſcher Abſicht dar.

4. J. Paul definirt das Komiſche als ſinnlich angeſchauten Un-
verſtand (a. a. O. §. 28) und beſchreibt es als eine Handlung, die im

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[354/0368] 2. Die organiſche Kraft kommt zuerſt in Betracht als Geſtalt. Es könnte ſcheinen, hier müſſe von der Schönheit ausgegangen und die Häß- lichkeit als Entſtellung dieſer, nicht aber der Erhabenheit als Kraft, gefaßt werden. Allein wie vom Erhabenen (§. 87) galt, daß durch die ver- gleichende Meſſung Vieles erhaben wird, was ſonſt ſchön wäre, ebenſo gilt hier, daß durch den Abſturz in Entſtellung Vieles als eine dem Komiſchen verfallende Erhabenheit erſcheint, was ſonſt unter dem Ge- ſichtspunkte der Schönheit angeſchaut worden wäre. Es tritt etwas ein, was die bauende Natur hindert, ihren Zweck zu vollführen: durch dieſes Hinderniß erſcheint dieſe als eine Kraft, welche zwingen möchte, wenn ſie könnte. So nennen wir die aufrechte Stellung des Menſchen an ſich ſchön, wenn wir ſie aber mit der horizontalen thieriſchen vergleichen, erhaben. Iſt nun eine menſchliche Geſtalt nicht aufrecht, ſondern ſchief, gebückt, u. ſ. w., ſo entbinden ſich thieriſche Merkmale und im Wider- ſpruch mit dieſem Sinken in’s Thieriſche iſt alſo jetzt die urſprüngliche Intention der Geſtalt eine dem Komiſchen verfallende Erhabenheit. Das häßliche Glied ſollte gehorchen, emanzipirt ſich aber, wird frei wie Bar- dolfs Naſe, die in Falſtaffs Vergleichung als ein mit unendlichem Sekte zu ernährender ſelbſtändiger Salamander erſcheint, oder wie in Haugs Epigramm Herrn Wahls große Naſe, die Stundenlang zum Königsthor in Stuttgart hereinkommt, bis ſich endlich ein kleiner, an ſie angewachſener Mann als ihr Beſitzer erweist: der ganze Mann, deſſen Geſtalt dies beſondere Glied beherrſchen ſollte, iſt nun die Erhabenheit, die ihren Zweck nicht durchführen kann, ſondern im erſten Beiſpiel dem Chemiſchen und Thieriſchen, im zweiten dem Mechaniſchen oder Vege- tabiliſchen verfällt. 3. Ungeſchickte Bewegung, die ihr Ziel verfehlt, kommt hier in Be- tracht, ſofern noch von keinem eigentlich geiſtigen Zwecke die Rede iſt, ſondern einem inſtinktmäßigen Thun, wie Gehen, Langen, Athmen u. ſ. w.; denn ſonſt kämen wir über das Gebiet der bloſen Kraft hinaus. Selbſt Bewegungen einer edleren Thiergattung erſcheinen komiſch, wenn ſie einer unedleren ähnlich ſind, wie z. B. Bocks- und Kuh-Beine beim Pferde. Strenger iſt der Contraſt in der menſchlichen Bewegung, wenn ſie von ihrem Organe nicht Beſitz zu nehmen wußte, ſondern in das Rudern, Wanken, Schleichen, Hüpfen von Thieren oder in das ganz Maſchinen- Artige ſinkt. Der Pierrot ſtellt alle dieſe Uebel mit komiſcher Abſicht dar. 4. J. Paul definirt das Komiſche als ſinnlich angeſchauten Un- verſtand (a. a. O. §. 28) und beſchreibt es als eine Handlung, die im

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/368>, abgerufen am 23.11.2024.