Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

als begründet auf das Innewerden einer Zweckmäßigkeit oder Unzweck-
mäßigkeit fassen, allein dann ist der letztere Begriff in einer viel größeren
Weite genommen, als bei Kant, und bezieht sich z. B. ebenso auf rein
moralische Handlungen, wie auf das Schöne. Ueberdies wirft nun aber
Kant ohne alles Recht die ästhetische Lust mit der Lust überhaupt zusammen;
er, dessen bestes Verdienst darin besteht, die Reinheit des Wohlgefallens
am Schönen von allen sinnlichen sowohl als specifisch sittlichen Motiven
in's Licht gestellt zu haben, ist so ungenau, diese ganz besondere Art reiner
Lust, die er in das Zusammenstimmen von Einbildungskraft und Verstand
setzt, deßwegen mit der sinnlichen Empfindung unter Einem Namen
(ästhetisch s. §. 1, 3) zu befassen, weil beide blos subjektiv sind ("was
an der Vorstellung eines Objects blos subjectiv ist, d. h. ihre Beziehung
auf das Subject, nicht auf den Gegenstand ausmacht, ist die ästhetische
Beschaffenheit derselben" u. s. w. Einl. z. Kr. d. Urtheilskraft XLII).
Ferner bildet nun aber dies reine Wohlgefallen oder Mißfallen nicht den
Uebergang zum sittlichen Wollen, wie ihn der senkrechte Fortgang in der
zweiten Colonne parallel mit dem in der ersten voraussetzt. Kant ist
in diesem Punkte zunächst mit sich selbst im Widerspruch. So nämlich,
wie in der ersten Colonne das Gefühl der Lust und Unlust das Begehren
vermittelt, kann nach seiner eigenen Meinung jenes rein contemplative
Wohlgefallen nicht zur praktischen Sphäre hinüberführen: was soll aber
dann der Parallelismus zwischen beiden Colonnen? Aber auch der mittel-
bare Uebergang, den er von jenem reinen Wohlgefallen zum reinen Wollen
zieht, ist zu verwerfen. Das Schöne ist allerdings nach einer Seite hin
eine unabsichtliche Vorbereitung zum Guten; viel wichtiger aber ist die
andere Seite, daß nämlich das Gute schon wirklich seyn muß, um als
Schönes sich zu gestalten und gefühlt zu werden; und werfen wir von
da einen Blick auf die dritte und vierte Colonne, so ist das Schöne eben
die Darstellung des erreichten Endzwecks und der thätigen Freiheit, welche
hier beide im dritten Gliede stehen. Zu allen diesen Einwürfen kommt
nun noch der, daß ganz willkürlich die Urtheilskraft vom Verstande getrennt
wird. Der Verstand ist begreifend durch seine Kategorieen und unter
diese gehört die der Zweckmäßigkeit, urtheilend subsumirt er das Mannig-
faltige unter dieselben, hat aber noch einen langen Weg zurückzulegen,
bis er da ankommt, wo dieses als wahrhaft durchdrungen von dem All-
gemeinen begriffen wird. Was dann in die Einbildungskraft und das
Gefühl einströmt, um das Bild des Schönen zu erzeugen und dem Genusse
zu übergeben, ist vielmehr wie sich an seinem Ort zeigen wird, die Idee

als begründet auf das Innewerden einer Zweckmäßigkeit oder Unzweck-
mäßigkeit faſſen, allein dann iſt der letztere Begriff in einer viel größeren
Weite genommen, als bei Kant, und bezieht ſich z. B. ebenſo auf rein
moraliſche Handlungen, wie auf das Schöne. Ueberdies wirft nun aber
Kant ohne alles Recht die äſthetiſche Luſt mit der Luſt überhaupt zuſammen;
er, deſſen beſtes Verdienſt darin beſteht, die Reinheit des Wohlgefallens
am Schönen von allen ſinnlichen ſowohl als ſpecifiſch ſittlichen Motiven
in’s Licht geſtellt zu haben, iſt ſo ungenau, dieſe ganz beſondere Art reiner
Luſt, die er in das Zuſammenſtimmen von Einbildungskraft und Verſtand
ſetzt, deßwegen mit der ſinnlichen Empfindung unter Einem Namen
(äſthetiſch ſ. §. 1, 3) zu befaſſen, weil beide blos ſubjektiv ſind („was
an der Vorſtellung eines Objects blos ſubjectiv iſt, d. h. ihre Beziehung
auf das Subject, nicht auf den Gegenſtand ausmacht, iſt die äſthetiſche
Beſchaffenheit derſelben“ u. ſ. w. Einl. z. Kr. d. Urtheilskraft XLII).
Ferner bildet nun aber dies reine Wohlgefallen oder Mißfallen nicht den
Uebergang zum ſittlichen Wollen, wie ihn der ſenkrechte Fortgang in der
zweiten Colonne parallel mit dem in der erſten vorausſetzt. Kant iſt
in dieſem Punkte zunächſt mit ſich ſelbſt im Widerſpruch. So nämlich,
wie in der erſten Colonne das Gefühl der Luſt und Unluſt das Begehren
vermittelt, kann nach ſeiner eigenen Meinung jenes rein contemplative
Wohlgefallen nicht zur praktiſchen Sphäre hinüberführen: was ſoll aber
dann der Parallelismus zwiſchen beiden Colonnen? Aber auch der mittel-
bare Uebergang, den er von jenem reinen Wohlgefallen zum reinen Wollen
zieht, iſt zu verwerfen. Das Schöne iſt allerdings nach einer Seite hin
eine unabſichtliche Vorbereitung zum Guten; viel wichtiger aber iſt die
andere Seite, daß nämlich das Gute ſchon wirklich ſeyn muß, um als
Schönes ſich zu geſtalten und gefühlt zu werden; und werfen wir von
da einen Blick auf die dritte und vierte Colonne, ſo iſt das Schöne eben
die Darſtellung des erreichten Endzwecks und der thätigen Freiheit, welche
hier beide im dritten Gliede ſtehen. Zu allen dieſen Einwürfen kommt
nun noch der, daß ganz willkürlich die Urtheilskraft vom Verſtande getrennt
wird. Der Verſtand iſt begreifend durch ſeine Kategorieen und unter
dieſe gehört die der Zweckmäßigkeit, urtheilend ſubſumirt er das Mannig-
faltige unter dieſelben, hat aber noch einen langen Weg zurückzulegen,
bis er da ankommt, wo dieſes als wahrhaft durchdrungen von dem All-
gemeinen begriffen wird. Was dann in die Einbildungskraft und das
Gefühl einſtrömt, um das Bild des Schönen zu erzeugen und dem Genuſſe
zu übergeben, iſt vielmehr wie ſich an ſeinem Ort zeigen wird, die Idee

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p>
            <pb facs="#f0032" n="18"/> <hi rendition="#et">als begründet auf das Innewerden einer Zweckmäßigkeit oder Unzweck-<lb/>
mäßigkeit fa&#x017F;&#x017F;en, allein dann i&#x017F;t der letztere Begriff in einer viel größeren<lb/>
Weite genommen, als bei <hi rendition="#g">Kant,</hi> und bezieht &#x017F;ich z. B. eben&#x017F;o auf rein<lb/>
morali&#x017F;che Handlungen, wie auf das Schöne. Ueberdies wirft nun aber<lb/><hi rendition="#g">Kant</hi> ohne alles Recht die ä&#x017F;theti&#x017F;che Lu&#x017F;t mit der Lu&#x017F;t überhaupt zu&#x017F;ammen;<lb/>
er, de&#x017F;&#x017F;en be&#x017F;tes Verdien&#x017F;t darin be&#x017F;teht, die Reinheit des Wohlgefallens<lb/>
am Schönen von allen &#x017F;innlichen &#x017F;owohl als &#x017F;pecifi&#x017F;ch &#x017F;ittlichen Motiven<lb/>
in&#x2019;s Licht ge&#x017F;tellt zu haben, i&#x017F;t &#x017F;o ungenau, die&#x017F;e ganz be&#x017F;ondere Art reiner<lb/>
Lu&#x017F;t, die er in das Zu&#x017F;ammen&#x017F;timmen von Einbildungskraft und Ver&#x017F;tand<lb/>
&#x017F;etzt, deßwegen mit der &#x017F;innlichen Empfindung unter Einem Namen<lb/>&#x017F;theti&#x017F;ch &#x017F;. §. 1, <hi rendition="#sub">3</hi>) zu befa&#x017F;&#x017F;en, weil beide blos &#x017F;ubjektiv &#x017F;ind (&#x201E;was<lb/>
an der Vor&#x017F;tellung eines Objects blos &#x017F;ubjectiv i&#x017F;t, d. h. ihre Beziehung<lb/>
auf das Subject, nicht auf den Gegen&#x017F;tand ausmacht, i&#x017F;t die ä&#x017F;theti&#x017F;che<lb/>
Be&#x017F;chaffenheit der&#x017F;elben&#x201C; u. &#x017F;. w. Einl. z. Kr. d. Urtheilskraft <hi rendition="#aq">XLII</hi>).<lb/>
Ferner bildet nun aber dies reine Wohlgefallen oder Mißfallen nicht den<lb/>
Uebergang zum &#x017F;ittlichen Wollen, wie ihn der &#x017F;enkrechte Fortgang in der<lb/>
zweiten Colonne parallel mit dem in der er&#x017F;ten voraus&#x017F;etzt. <hi rendition="#g">Kant</hi> i&#x017F;t<lb/>
in die&#x017F;em Punkte zunäch&#x017F;t mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t im Wider&#x017F;pruch. So nämlich,<lb/>
wie in der er&#x017F;ten Colonne das Gefühl der Lu&#x017F;t und Unlu&#x017F;t das Begehren<lb/>
vermittelt, kann nach &#x017F;einer eigenen Meinung jenes rein contemplative<lb/>
Wohlgefallen nicht zur prakti&#x017F;chen Sphäre hinüberführen: was &#x017F;oll aber<lb/>
dann der Parallelismus zwi&#x017F;chen beiden Colonnen? Aber auch der mittel-<lb/>
bare Uebergang, den er von jenem reinen Wohlgefallen zum reinen Wollen<lb/>
zieht, i&#x017F;t zu verwerfen. Das Schöne i&#x017F;t allerdings nach einer Seite hin<lb/>
eine unab&#x017F;ichtliche Vorbereitung zum Guten; viel wichtiger aber i&#x017F;t die<lb/>
andere Seite, daß nämlich das Gute &#x017F;chon wirklich &#x017F;eyn muß, um als<lb/>
Schönes &#x017F;ich zu ge&#x017F;talten und gefühlt zu werden; und werfen wir von<lb/>
da einen Blick auf die dritte und vierte Colonne, &#x017F;o i&#x017F;t das Schöne eben<lb/>
die Dar&#x017F;tellung des erreichten Endzwecks und der thätigen Freiheit, welche<lb/>
hier beide im dritten Gliede &#x017F;tehen. Zu allen die&#x017F;en Einwürfen kommt<lb/>
nun noch der, daß ganz willkürlich die Urtheilskraft vom Ver&#x017F;tande getrennt<lb/>
wird. Der Ver&#x017F;tand i&#x017F;t begreifend durch &#x017F;eine Kategorieen und unter<lb/>
die&#x017F;e gehört die der Zweckmäßigkeit, urtheilend &#x017F;ub&#x017F;umirt er das Mannig-<lb/>
faltige unter die&#x017F;elben, hat aber noch einen langen Weg zurückzulegen,<lb/>
bis er da ankommt, wo die&#x017F;es als wahrhaft durchdrungen von dem All-<lb/>
gemeinen begriffen wird. Was dann in die Einbildungskraft und das<lb/>
Gefühl ein&#x017F;trömt, um das Bild des Schönen zu erzeugen und dem Genu&#x017F;&#x017F;e<lb/>
zu übergeben, i&#x017F;t vielmehr wie &#x017F;ich an &#x017F;einem Ort zeigen wird, die Idee<lb/></hi> </p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0032] als begründet auf das Innewerden einer Zweckmäßigkeit oder Unzweck- mäßigkeit faſſen, allein dann iſt der letztere Begriff in einer viel größeren Weite genommen, als bei Kant, und bezieht ſich z. B. ebenſo auf rein moraliſche Handlungen, wie auf das Schöne. Ueberdies wirft nun aber Kant ohne alles Recht die äſthetiſche Luſt mit der Luſt überhaupt zuſammen; er, deſſen beſtes Verdienſt darin beſteht, die Reinheit des Wohlgefallens am Schönen von allen ſinnlichen ſowohl als ſpecifiſch ſittlichen Motiven in’s Licht geſtellt zu haben, iſt ſo ungenau, dieſe ganz beſondere Art reiner Luſt, die er in das Zuſammenſtimmen von Einbildungskraft und Verſtand ſetzt, deßwegen mit der ſinnlichen Empfindung unter Einem Namen (äſthetiſch ſ. §. 1, 3) zu befaſſen, weil beide blos ſubjektiv ſind („was an der Vorſtellung eines Objects blos ſubjectiv iſt, d. h. ihre Beziehung auf das Subject, nicht auf den Gegenſtand ausmacht, iſt die äſthetiſche Beſchaffenheit derſelben“ u. ſ. w. Einl. z. Kr. d. Urtheilskraft XLII). Ferner bildet nun aber dies reine Wohlgefallen oder Mißfallen nicht den Uebergang zum ſittlichen Wollen, wie ihn der ſenkrechte Fortgang in der zweiten Colonne parallel mit dem in der erſten vorausſetzt. Kant iſt in dieſem Punkte zunächſt mit ſich ſelbſt im Widerſpruch. So nämlich, wie in der erſten Colonne das Gefühl der Luſt und Unluſt das Begehren vermittelt, kann nach ſeiner eigenen Meinung jenes rein contemplative Wohlgefallen nicht zur praktiſchen Sphäre hinüberführen: was ſoll aber dann der Parallelismus zwiſchen beiden Colonnen? Aber auch der mittel- bare Uebergang, den er von jenem reinen Wohlgefallen zum reinen Wollen zieht, iſt zu verwerfen. Das Schöne iſt allerdings nach einer Seite hin eine unabſichtliche Vorbereitung zum Guten; viel wichtiger aber iſt die andere Seite, daß nämlich das Gute ſchon wirklich ſeyn muß, um als Schönes ſich zu geſtalten und gefühlt zu werden; und werfen wir von da einen Blick auf die dritte und vierte Colonne, ſo iſt das Schöne eben die Darſtellung des erreichten Endzwecks und der thätigen Freiheit, welche hier beide im dritten Gliede ſtehen. Zu allen dieſen Einwürfen kommt nun noch der, daß ganz willkürlich die Urtheilskraft vom Verſtande getrennt wird. Der Verſtand iſt begreifend durch ſeine Kategorieen und unter dieſe gehört die der Zweckmäßigkeit, urtheilend ſubſumirt er das Mannig- faltige unter dieſelben, hat aber noch einen langen Weg zurückzulegen, bis er da ankommt, wo dieſes als wahrhaft durchdrungen von dem All- gemeinen begriffen wird. Was dann in die Einbildungskraft und das Gefühl einſtrömt, um das Bild des Schönen zu erzeugen und dem Genuſſe zu übergeben, iſt vielmehr wie ſich an ſeinem Ort zeigen wird, die Idee

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/32
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/32>, abgerufen am 21.11.2024.