Princip für das Gefühl der Lust und Unlust. Dieses hat nun zwar als rein formales Wohlgefallen durchaus keine unmittelbare Beziehung zum Begehrungsvermögen, wohl aber befördert es mittelbar die Empfäng- lichkeit des Gemüths für das moralische Gefühl: theils eben durch jene Ueberzeugung von einer Bestimmbarkeit der Natur durch den sittlichen Willen, theils durch die symbolische Analogie des Schönen mit dem Guten, worüber §. 59 der Kr. d. ästh. Urtheilskraft zu vergleichen ist. Kant gewinnt nun die bekannte Eintheilungstafel:
[Tabelle]
Die ganze Confusion dieser Eintheilung drängt sich bei dem Anblicke der Tafel sogleich auf. Die zweite Colonne theilt nur das erste Glied der ersten ein und stört dadurch den ganzen Parallelismus, der horizontal durch alle Colonnen hindurchgehen soll. Diese Störung hat sogleich ihren innern Grund in der ganzen Schiefheit der vorhergehenden Entwicklung und der Voraussetzungen der Kant'schen Philosophie überhaupt. Ein- getheilt wird nämlich in dieser zweiten Colonne nur das Erkenntniß- vermögen. Dennoch soll das zweite und dritte Glied dieser Colonne dem zweiten und dritten der ersten entsprechen: die Urtheilskraft dem Gefühle der Lust und Unlust, die Vernunft dem Begehrungsvermögen. Die Ver- nunft entspricht aber dem Begehrungsvermögen nur, wenn man zugibt, daß ihr Gebrauch rein auf das praktische Gebiet einzuschränken sey: dann aber ist sie nicht mehr zu den Erkenntnißvermögen zu zählen. Die Urtheils- kraft entspricht dem Gefühle der Lust und Unlust nur, wenn man zugibt, daß sie für dieses die Gesetzgebung ist, ja daß die geistige Bewegung über- haupt durch sie hindurch muß, um bei dem Gefühle der Lust oder Unlust anzukommen. Dies ist falsch, sowohl wenn man Lust und Unlust im all- gemeinen, als auch wenn man es im besondern, ästhetischen Sinne versteht, denn Lust und Unlust ist immer unmittelbar; dieser Unmittelbarkeit kann zwar die Vermittlung durch alle verschiedene Formen geistiger Thätigkeit vorausgehen, ja nach der einen Seite ist alle Unmittelbarkeit eine erloschene Vermittlung; aber ebendarum weil jene die verschiedensten Formen dieser voraussetzt, so ist es ganz falsch, die Urtheilskraft ausschließend als die Form dieser Vermittlung aufzustellen. Man kann freilich jedes Gefühl
Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 2
Princip für das Gefühl der Luſt und Unluſt. Dieſes hat nun zwar als rein formales Wohlgefallen durchaus keine unmittelbare Beziehung zum Begehrungsvermögen, wohl aber befördert es mittelbar die Empfäng- lichkeit des Gemüths für das moraliſche Gefühl: theils eben durch jene Ueberzeugung von einer Beſtimmbarkeit der Natur durch den ſittlichen Willen, theils durch die ſymboliſche Analogie des Schönen mit dem Guten, worüber §. 59 der Kr. d. äſth. Urtheilskraft zu vergleichen iſt. Kant gewinnt nun die bekannte Eintheilungstafel:
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Die ganze Confuſion dieſer Eintheilung drängt ſich bei dem Anblicke der Tafel ſogleich auf. Die zweite Colonne theilt nur das erſte Glied der erſten ein und ſtört dadurch den ganzen Parallelismus, der horizontal durch alle Colonnen hindurchgehen ſoll. Dieſe Störung hat ſogleich ihren innern Grund in der ganzen Schiefheit der vorhergehenden Entwicklung und der Vorausſetzungen der Kant’ſchen Philoſophie überhaupt. Ein- getheilt wird nämlich in dieſer zweiten Colonne nur das Erkenntniß- vermögen. Dennoch ſoll das zweite und dritte Glied dieſer Colonne dem zweiten und dritten der erſten entſprechen: die Urtheilskraft dem Gefühle der Luſt und Unluſt, die Vernunft dem Begehrungsvermögen. Die Ver- nunft entſpricht aber dem Begehrungsvermögen nur, wenn man zugibt, daß ihr Gebrauch rein auf das praktiſche Gebiet einzuſchränken ſey: dann aber iſt ſie nicht mehr zu den Erkenntnißvermögen zu zählen. Die Urtheils- kraft entſpricht dem Gefühle der Luſt und Unluſt nur, wenn man zugibt, daß ſie für dieſes die Geſetzgebung iſt, ja daß die geiſtige Bewegung über- haupt durch ſie hindurch muß, um bei dem Gefühle der Luſt oder Unluſt anzukommen. Dies iſt falſch, ſowohl wenn man Luſt und Unluſt im all- gemeinen, als auch wenn man es im beſondern, äſthetiſchen Sinne verſteht, denn Luſt und Unluſt iſt immer unmittelbar; dieſer Unmittelbarkeit kann zwar die Vermittlung durch alle verſchiedene Formen geiſtiger Thätigkeit vorausgehen, ja nach der einen Seite iſt alle Unmittelbarkeit eine erloſchene Vermittlung; aber ebendarum weil jene die verſchiedenſten Formen dieſer vorausſetzt, ſo iſt es ganz falſch, die Urtheilskraft ausſchließend als die Form dieſer Vermittlung aufzuſtellen. Man kann freilich jedes Gefühl
Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 2
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Princip für das Gefühl der Luſt und Unluſt. Dieſes hat nun zwar
als rein formales Wohlgefallen durchaus keine unmittelbare Beziehung
zum Begehrungsvermögen, wohl aber befördert es mittelbar die Empfäng-
lichkeit des Gemüths für das moraliſche Gefühl: theils eben durch jene
Ueberzeugung von einer Beſtimmbarkeit der Natur durch den ſittlichen
Willen, theils durch die ſymboliſche Analogie des Schönen mit dem Guten,
worüber §. 59 der Kr. d. äſth. Urtheilskraft zu vergleichen iſt. Kant
gewinnt nun die bekannte Eintheilungstafel:
Die ganze Confuſion dieſer Eintheilung drängt ſich bei dem Anblicke
der Tafel ſogleich auf. Die zweite Colonne theilt nur das erſte Glied
der erſten ein und ſtört dadurch den ganzen Parallelismus, der horizontal
durch alle Colonnen hindurchgehen ſoll. Dieſe Störung hat ſogleich ihren
innern Grund in der ganzen Schiefheit der vorhergehenden Entwicklung
und der Vorausſetzungen der Kant’ſchen Philoſophie überhaupt. Ein-
getheilt wird nämlich in dieſer zweiten Colonne nur das Erkenntniß-
vermögen. Dennoch ſoll das zweite und dritte Glied dieſer Colonne dem
zweiten und dritten der erſten entſprechen: die Urtheilskraft dem Gefühle
der Luſt und Unluſt, die Vernunft dem Begehrungsvermögen. Die Ver-
nunft entſpricht aber dem Begehrungsvermögen nur, wenn man zugibt,
daß ihr Gebrauch rein auf das praktiſche Gebiet einzuſchränken ſey: dann
aber iſt ſie nicht mehr zu den Erkenntnißvermögen zu zählen. Die Urtheils-
kraft entſpricht dem Gefühle der Luſt und Unluſt nur, wenn man zugibt,
daß ſie für dieſes die Geſetzgebung iſt, ja daß die geiſtige Bewegung über-
haupt durch ſie hindurch muß, um bei dem Gefühle der Luſt oder Unluſt
anzukommen. Dies iſt falſch, ſowohl wenn man Luſt und Unluſt im all-
gemeinen, als auch wenn man es im beſondern, äſthetiſchen Sinne verſteht,
denn Luſt und Unluſt iſt immer unmittelbar; dieſer Unmittelbarkeit kann
zwar die Vermittlung durch alle verſchiedene Formen geiſtiger Thätigkeit
vorausgehen, ja nach der einen Seite iſt alle Unmittelbarkeit eine erloſchene
Vermittlung; aber ebendarum weil jene die verſchiedenſten Formen dieſer
vorausſetzt, ſo iſt es ganz falſch, die Urtheilskraft ausſchließend als die
Form dieſer Vermittlung aufzuſtellen. Man kann freilich jedes Gefühl
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/31>, abgerufen am 23.11.2024.
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