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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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ein sinnliches Denken. Der Gesichtssinn umspannt das Ganze der
Gestalt, er nimmt die Totalwirkung der Oberfläche in sich auf, sowohl
in der Bestimmtheit ihrer inneren und äußeren Grenzen, wie sich Alles
klar voneinander absetzt und abbebt, hintereinander verschiebt, (wobei er
eben zugleich als höherer Tastsinn wirkt), als auch in der strengen
Zusammengehörigkeit der Theile oder Glieder Eines Körpers, hinter
welche zerlegend in das stoffartig Innere zu treten er nur durch besondere
Veranlassung, sey es der Umstände oder des Willens, bestimmt wird.
Dann wirkt er nicht mehr ästhetisch, wie er denn überhaupt nicht noth-
wendig und nicht allein ästhetisch wirkt; wir müssen ihn an anderer
Stelle wieder aufnehmen. Er dient, wenn er in das zerlegte Innere
eingeführt wird, in die stoffartige Mischung eines Körpers, entweder der
unmittelbaren Lust und Unlust, wie die niedrigeren Sinne, oder dem
wissenschaftlichen Zwecke. Durch die Veränderung der Verschiebungen
nimmt aber der Gesichtssinn auch die Bewegung wahr, und da diese
zugleich Ursache des Tones ist, so steht er dem Gehörssinn nahe,
der überhaupt in ihm mitgesetzt auch bei nicht wirklichem Hören als ein
innerliches Hören von Tönen wunderbar in ihm mitwirkt. Der
Gehörssinn für sich kann auch stoffartig wirken, wenn der Körper
nicht in reinem Zusammenklange seiner Stoffe erzittert, sondern diese in
ihrer Materialität hindurchklingen. Im Zusammenklang aber vernimmt
er frei und objectiv, wie der Gesichtssinn das Ganze eines Körpers,
freilich in anderer Weise, so nämlich wie er in der Seele des Tons
seine Räumlichkeit in die Zeitlichkeit aufhebt. Auf diesem Punkte treten
nun schwierige Fragen ein, welche auf die Eigenthümlichkeit führen, durch
welche die Musik von allen andern Künsten sich unterscheidet. Hier nur
so viel: der Gehörsinn scheint einerseits wieder, da im Tone sich die
Objectivität der Gestalt aufhebt, in die dunkle Tiefe zu zeigen, worin
Subject und Object verschlungen sind, andererseits ist er als Vernehmen
des articulirten Tons so geistig, daß er über das Aesthetische hinaus-
geht und nur Vehikel für dasselbe wird: die Musik wird zwischen diese
Pole in die Mitte treten. Uebrigens wie das Gehör das Gesicht, so
begleitet das Gesicht als eine Art von Schluß aus dem Ton auf die
Gestalt und ihre Bewegung, auch wo nicht wirklich gesehen wird, das
Gehör.

Es ist, obwohl wir hier die Künste noch nicht kennen, kaum mög-
lich, die Frage zurückzuweisen, wie es sich denn mit der Poesie verhalte,
welche durch kein sinnliches Organ (da das Gehör oder im Lesen das

ein ſinnliches Denken. Der Geſichtsſinn umſpannt das Ganze der
Geſtalt, er nimmt die Totalwirkung der Oberfläche in ſich auf, ſowohl
in der Beſtimmtheit ihrer inneren und äußeren Grenzen, wie ſich Alles
klar voneinander abſetzt und abbebt, hintereinander verſchiebt, (wobei er
eben zugleich als höherer Taſtſinn wirkt), als auch in der ſtrengen
Zuſammengehörigkeit der Theile oder Glieder Eines Körpers, hinter
welche zerlegend in das ſtoffartig Innere zu treten er nur durch beſondere
Veranlaſſung, ſey es der Umſtände oder des Willens, beſtimmt wird.
Dann wirkt er nicht mehr äſthetiſch, wie er denn überhaupt nicht noth-
wendig und nicht allein äſthetiſch wirkt; wir müſſen ihn an anderer
Stelle wieder aufnehmen. Er dient, wenn er in das zerlegte Innere
eingeführt wird, in die ſtoffartige Miſchung eines Körpers, entweder der
unmittelbaren Luſt und Unluſt, wie die niedrigeren Sinne, oder dem
wiſſenſchaftlichen Zwecke. Durch die Veränderung der Verſchiebungen
nimmt aber der Geſichtsſinn auch die Bewegung wahr, und da dieſe
zugleich Urſache des Tones iſt, ſo ſteht er dem Gehörsſinn nahe,
der überhaupt in ihm mitgeſetzt auch bei nicht wirklichem Hören als ein
innerliches Hören von Tönen wunderbar in ihm mitwirkt. Der
Gehörsſinn für ſich kann auch ſtoffartig wirken, wenn der Körper
nicht in reinem Zuſammenklange ſeiner Stoffe erzittert, ſondern dieſe in
ihrer Materialität hindurchklingen. Im Zuſammenklang aber vernimmt
er frei und objectiv, wie der Geſichtsſinn das Ganze eines Körpers,
freilich in anderer Weiſe, ſo nämlich wie er in der Seele des Tons
ſeine Räumlichkeit in die Zeitlichkeit aufhebt. Auf dieſem Punkte treten
nun ſchwierige Fragen ein, welche auf die Eigenthümlichkeit führen, durch
welche die Muſik von allen andern Künſten ſich unterſcheidet. Hier nur
ſo viel: der Gehörſinn ſcheint einerſeits wieder, da im Tone ſich die
Objectivität der Geſtalt aufhebt, in die dunkle Tiefe zu zeigen, worin
Subject und Object verſchlungen ſind, andererſeits iſt er als Vernehmen
des articulirten Tons ſo geiſtig, daß er über das Aeſthetiſche hinaus-
geht und nur Vehikel für dasſelbe wird: die Muſik wird zwiſchen dieſe
Pole in die Mitte treten. Uebrigens wie das Gehör das Geſicht, ſo
begleitet das Geſicht als eine Art von Schluß aus dem Ton auf die
Geſtalt und ihre Bewegung, auch wo nicht wirklich geſehen wird, das
Gehör.

Es iſt, obwohl wir hier die Künſte noch nicht kennen, kaum mög-
lich, die Frage zurückzuweiſen, wie es ſich denn mit der Poeſie verhalte,
welche durch kein ſinnliches Organ (da das Gehör oder im Leſen das

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[183/0197] ein ſinnliches Denken. Der Geſichtsſinn umſpannt das Ganze der Geſtalt, er nimmt die Totalwirkung der Oberfläche in ſich auf, ſowohl in der Beſtimmtheit ihrer inneren und äußeren Grenzen, wie ſich Alles klar voneinander abſetzt und abbebt, hintereinander verſchiebt, (wobei er eben zugleich als höherer Taſtſinn wirkt), als auch in der ſtrengen Zuſammengehörigkeit der Theile oder Glieder Eines Körpers, hinter welche zerlegend in das ſtoffartig Innere zu treten er nur durch beſondere Veranlaſſung, ſey es der Umſtände oder des Willens, beſtimmt wird. Dann wirkt er nicht mehr äſthetiſch, wie er denn überhaupt nicht noth- wendig und nicht allein äſthetiſch wirkt; wir müſſen ihn an anderer Stelle wieder aufnehmen. Er dient, wenn er in das zerlegte Innere eingeführt wird, in die ſtoffartige Miſchung eines Körpers, entweder der unmittelbaren Luſt und Unluſt, wie die niedrigeren Sinne, oder dem wiſſenſchaftlichen Zwecke. Durch die Veränderung der Verſchiebungen nimmt aber der Geſichtsſinn auch die Bewegung wahr, und da dieſe zugleich Urſache des Tones iſt, ſo ſteht er dem Gehörsſinn nahe, der überhaupt in ihm mitgeſetzt auch bei nicht wirklichem Hören als ein innerliches Hören von Tönen wunderbar in ihm mitwirkt. Der Gehörsſinn für ſich kann auch ſtoffartig wirken, wenn der Körper nicht in reinem Zuſammenklange ſeiner Stoffe erzittert, ſondern dieſe in ihrer Materialität hindurchklingen. Im Zuſammenklang aber vernimmt er frei und objectiv, wie der Geſichtsſinn das Ganze eines Körpers, freilich in anderer Weiſe, ſo nämlich wie er in der Seele des Tons ſeine Räumlichkeit in die Zeitlichkeit aufhebt. Auf dieſem Punkte treten nun ſchwierige Fragen ein, welche auf die Eigenthümlichkeit führen, durch welche die Muſik von allen andern Künſten ſich unterſcheidet. Hier nur ſo viel: der Gehörſinn ſcheint einerſeits wieder, da im Tone ſich die Objectivität der Geſtalt aufhebt, in die dunkle Tiefe zu zeigen, worin Subject und Object verſchlungen ſind, andererſeits iſt er als Vernehmen des articulirten Tons ſo geiſtig, daß er über das Aeſthetiſche hinaus- geht und nur Vehikel für dasſelbe wird: die Muſik wird zwiſchen dieſe Pole in die Mitte treten. Uebrigens wie das Gehör das Geſicht, ſo begleitet das Geſicht als eine Art von Schluß aus dem Ton auf die Geſtalt und ihre Bewegung, auch wo nicht wirklich geſehen wird, das Gehör. Es iſt, obwohl wir hier die Künſte noch nicht kennen, kaum mög- lich, die Frage zurückzuweiſen, wie es ſich denn mit der Poeſie verhalte, welche durch kein ſinnliches Organ (da das Gehör oder im Leſen das

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/197>, abgerufen am 18.04.2024.