er einem ungeistigen Naturwesen weder schaden noch es fördern wollte, sondern es gar nicht zu berücksichtigen hatte, und es nun zufällig stört oder vernichtet. Ein Thier wäre schön, aber ein Mensch hat ihm zu- fällig ein Glied zertreten, abgestoßen u. s. w. Wohlverstanden, es ist also nicht die Rede von dem Fall, wo er es um seiner Zwecke willen ver- letzen oder tödten wollte: darin ist Zusammenhang, daraus kann unter Umständen auch ein ästhetisches Ganzes werden (Jagd etc.). In dem hier gemeinten Vorgange ist aber kein Sinn, hier hat sich der Geist (be- ziehungsweise) blind verhalten. Ebenso ist bei dem ersten Beispiele nicht die Rede von solchen Fällen, wo die Art des Zwecks es mit sich bringt, die Natur in Rechnung zu nehmen, wie die Schifffahrt u. dgl. Hier ist das Uebel selbst ein Lebensreiz, gehört zu dem ästhetisch ganz zuläßigen und berechtigten Zufalle (Schiff im Sturme u. dgl.). Wenn aber z. B. ein würdiger Redner eine Versammlung zu einem großen Werke begeistern will und ein Schnupfen hindert ihn, dieß ist roher, unästhetischer Zufall. Hier sind nun die Beispiele aus dem Zusammen- stoß von Gattungen gewählt, zwischen denen viele Stufen liegen; aber es tritt solche Störung auch zwischen näher verwandte Gattungen. Es wird Frühling, die Blumen blühen, die Bäume schlagen aus, aber ein Nachwinter zerstört Alles. Die Pflanzen wußten nicht um dieß drohende Uebel, die Luft weiß nicht um die Pflanzen, die sie doch nährt, und folgt blind den atmosphärischen Gesetzen. Das Wetter ist wirklich einer der schlimmsten Feinde des Schönen. Man denke nun überhaupt bei solchen Störungen nicht an solche, welche im Zusammenhange des vor- liegenden Falles liegen; diese gehören zur Sache, oder vielmehr sie sind keine Störungen, sondern organische Kämpfe der einer Idee selbst im- manenten Momente. Es kann z. B. das Interesse eines Gedichts seyn, solche Störungen des Pflanzenlebens darzustellen, wie die ebengenannte, wenn es nämlich zum Zwecke hat, Stimmungen des Menschen, die dar- aus erwachsen, u. dergl. zu entfalten. Ist aber der Frühling als solcher der Gegenstand, so muß es ein ganzer Frühling seyn ohne Störungen dieser Art: und davon ist die Rede. Die Trübung der einer Gattung angehörigen Individuen durch einen Zusammenstoß mit Wirkungen anderer Gattungen außer dem Zusammenhang geht fort bis zur Aufreibung. Auch hiemit ist eine Aufreibung außer der Linie gemeint. Z. B. Tod aus Altersschwäche gehört nicht hieher, sondern liegt im Gesetze der Gattung. Tod durch einen gewollten Kampf gehört auch nicht hieher, denn er gehört zum Ganzen dieses Kampfes. Wenn aber ein edler Krieger nicht
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er einem ungeiſtigen Naturweſen weder ſchaden noch es fördern wollte, ſondern es gar nicht zu berückſichtigen hatte, und es nun zufällig ſtört oder vernichtet. Ein Thier wäre ſchön, aber ein Menſch hat ihm zu- fällig ein Glied zertreten, abgeſtoßen u. ſ. w. Wohlverſtanden, es iſt alſo nicht die Rede von dem Fall, wo er es um ſeiner Zwecke willen ver- letzen oder tödten wollte: darin iſt Zuſammenhang, daraus kann unter Umſtänden auch ein äſthetiſches Ganzes werden (Jagd ꝛc.). In dem hier gemeinten Vorgange iſt aber kein Sinn, hier hat ſich der Geiſt (be- ziehungsweiſe) blind verhalten. Ebenſo iſt bei dem erſten Beiſpiele nicht die Rede von ſolchen Fällen, wo die Art des Zwecks es mit ſich bringt, die Natur in Rechnung zu nehmen, wie die Schifffahrt u. dgl. Hier iſt das Uebel ſelbſt ein Lebensreiz, gehört zu dem äſthetiſch ganz zuläßigen und berechtigten Zufalle (Schiff im Sturme u. dgl.). Wenn aber z. B. ein würdiger Redner eine Verſammlung zu einem großen Werke begeiſtern will und ein Schnupfen hindert ihn, dieß iſt roher, unäſthetiſcher Zufall. Hier ſind nun die Beiſpiele aus dem Zuſammen- ſtoß von Gattungen gewählt, zwiſchen denen viele Stufen liegen; aber es tritt ſolche Störung auch zwiſchen näher verwandte Gattungen. Es wird Frühling, die Blumen blühen, die Bäume ſchlagen aus, aber ein Nachwinter zerſtört Alles. Die Pflanzen wußten nicht um dieß drohende Uebel, die Luft weiß nicht um die Pflanzen, die ſie doch nährt, und folgt blind den atmoſphäriſchen Geſetzen. Das Wetter iſt wirklich einer der ſchlimmſten Feinde des Schönen. Man denke nun überhaupt bei ſolchen Störungen nicht an ſolche, welche im Zuſammenhange des vor- liegenden Falles liegen; dieſe gehören zur Sache, oder vielmehr ſie ſind keine Störungen, ſondern organiſche Kämpfe der einer Idee ſelbſt im- manenten Momente. Es kann z. B. das Intereſſe eines Gedichts ſeyn, ſolche Störungen des Pflanzenlebens darzuſtellen, wie die ebengenannte, wenn es nämlich zum Zwecke hat, Stimmungen des Menſchen, die dar- aus erwachſen, u. dergl. zu entfalten. Iſt aber der Frühling als ſolcher der Gegenſtand, ſo muß es ein ganzer Frühling ſeyn ohne Störungen dieſer Art: und davon iſt die Rede. Die Trübung der einer Gattung angehörigen Individuen durch einen Zuſammenſtoß mit Wirkungen anderer Gattungen außer dem Zuſammenhang geht fort bis zur Aufreibung. Auch hiemit iſt eine Aufreibung außer der Linie gemeint. Z. B. Tod aus Altersſchwäche gehört nicht hieher, ſondern liegt im Geſetze der Gattung. Tod durch einen gewollten Kampf gehört auch nicht hieher, denn er gehört zum Ganzen dieſes Kampfes. Wenn aber ein edler Krieger nicht
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er einem ungeiſtigen Naturweſen weder ſchaden noch es fördern wollte,
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fällig ein Glied zertreten, abgeſtoßen u. ſ. w. Wohlverſtanden, es iſt alſo
nicht die Rede von dem Fall, wo er es um ſeiner Zwecke willen ver-
letzen oder tödten wollte: darin iſt Zuſammenhang, daraus kann unter
Umſtänden auch ein äſthetiſches Ganzes werden (Jagd ꝛc.). In dem
hier gemeinten Vorgange iſt aber kein Sinn, hier hat ſich der Geiſt (be-
ziehungsweiſe) blind verhalten. Ebenſo iſt bei dem erſten Beiſpiele nicht
die Rede von ſolchen Fällen, wo die Art des Zwecks es mit ſich
bringt, die Natur in Rechnung zu nehmen, wie die Schifffahrt u. dgl.
Hier iſt das Uebel ſelbſt ein Lebensreiz, gehört zu dem äſthetiſch ganz
zuläßigen und berechtigten Zufalle (Schiff im Sturme u. dgl.). Wenn
aber z. B. ein würdiger Redner eine Verſammlung zu einem großen
Werke begeiſtern will und ein Schnupfen hindert ihn, dieß iſt roher,
unäſthetiſcher Zufall. Hier ſind nun die Beiſpiele aus dem Zuſammen-
ſtoß von Gattungen gewählt, zwiſchen denen viele Stufen liegen; aber
es tritt ſolche Störung auch zwiſchen näher verwandte Gattungen. Es
wird Frühling, die Blumen blühen, die Bäume ſchlagen aus, aber ein
Nachwinter zerſtört Alles. Die Pflanzen wußten nicht um dieß drohende
Uebel, die Luft weiß nicht um die Pflanzen, die ſie doch nährt, und
folgt blind den atmoſphäriſchen Geſetzen. Das Wetter iſt wirklich einer
der ſchlimmſten Feinde des Schönen. Man denke nun überhaupt bei
ſolchen Störungen nicht an ſolche, welche im Zuſammenhange des vor-
liegenden Falles liegen; dieſe gehören zur Sache, oder vielmehr ſie ſind
keine Störungen, ſondern organiſche Kämpfe der einer Idee ſelbſt im-
manenten Momente. Es kann z. B. das Intereſſe eines Gedichts ſeyn,
ſolche Störungen des Pflanzenlebens darzuſtellen, wie die ebengenannte,
wenn es nämlich zum Zwecke hat, Stimmungen des Menſchen, die dar-
aus erwachſen, u. dergl. zu entfalten. Iſt aber der Frühling als ſolcher
der Gegenſtand, ſo muß es ein ganzer Frühling ſeyn ohne Störungen
dieſer Art: und davon iſt die Rede. Die Trübung der einer Gattung
angehörigen Individuen durch einen Zuſammenſtoß mit Wirkungen anderer
Gattungen außer dem Zuſammenhang geht fort bis zur Aufreibung. Auch
hiemit iſt eine Aufreibung außer der Linie gemeint. Z. B. Tod aus
Altersſchwäche gehört nicht hieher, ſondern liegt im Geſetze der Gattung.
Tod durch einen gewollten Kampf gehört auch nicht hieher, denn er
gehört zum Ganzen dieſes Kampfes. Wenn aber ein edler Krieger nicht
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/129>, abgerufen am 27.11.2024.
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