zustellen weiß, bringt ein mechanisches Bild hervor. Diese Liberalität und legerete der Zufälligkeit ist ganz wesentlich, und zwar auch in der Dar- stellung des Menschen; der erste Reiz muß zufällig erscheinen, der Wille er- hebt ihn erst in den Zusammenhang der sittlichen Ordnung. Das Lebendige wählt, aber zum Wählen muß etwas da seyn; es nimmt es daher, wie es kommt: dies muß man dem Schönen durchaus ansehen.
§. 34.
Diese Zufälligkeit, wie sehr sich dadurch der Gegensatz zwischen den Be- stimmungen dieses und den Bestimmungen des ersten Moments, der Idee, zum Widerspruch steigern mag, ist Gesetz im Schönen. Denn wenn aus der Allge- meinheit und Nothwendigkeit der Idee heraus die Abstraction einer Gestalt und ihrer Bewegungen abgeleitet würde, die ohne alle Abweichung ihrem Gat- tungsbegriff entspräche, so ließe sich nicht jener Schein der Verwirklichung der Idee begründen, welcher in §. 13 gefordert ist. Der Widerspruch aber ist aller- dings erst zu lösen.
Auch hier ist, um die Sache in ihrer Consequenz klar zu machen, vorläufig an die Kunst zu erinnern. Mathematischer Charakter des abstracten Idealismus. Der Künstler: auch er geht, wie sich zeigen wird, in seinem Schaffen vom Zufall aus. Der Grund aber, warum alle Kunst Todtes hervorbringt, wenn sie den Charakter der Zufälligkeit opfert, ist in der Metaphysik des Schönen aufzustellen. Die Idee er- scheint nämlich nicht als wirklich, wenn das, was ihre Verwirklichung zu stören scheint, weggelassen wird. Wenn sich z. B. im Drama ein Charakter, weil er durch Lokal-Einflüsse, Temperament, Erziehung u. s. w. schon anderwärts bestimmt ist, mit dem ihm zugetheilten Pathos nur schwer und widerstrebend durchdringt, dann erst erscheint dieses in seiner Kraft; je planer es dagegen mit jenem zusammenfällt, desto unmächtiger erscheint es. Hier aber ist noch nicht von der Lösung die Rede; es ist zuerst nur der Gegensatz des idealen und des realen Moments im Schönen bis zum vollen Widerspruch hervorzuheben; die Spitze desselben ist jedoch mit dem Bisherigen noch nicht ausgesprochen.
§. 35.
Da also immer beides, die Regel, welche durch die Gattung, und die Abweichung, welche durch die Zufälligkeit des Individuums gegeben ist, in der Gestalt sich vereinigt, so erhellt, daß keine Bestimmtheit derselben aufzufinden ist, welche als Merkmal oder Richtmaß der Schönheit gelten könnte. Es ist
zuſtellen weiß, bringt ein mechaniſches Bild hervor. Dieſe Liberalität und légèreté der Zufälligkeit iſt ganz weſentlich, und zwar auch in der Dar- ſtellung des Menſchen; der erſte Reiz muß zufällig erſcheinen, der Wille er- hebt ihn erſt in den Zuſammenhang der ſittlichen Ordnung. Das Lebendige wählt, aber zum Wählen muß etwas da ſeyn; es nimmt es daher, wie es kommt: dies muß man dem Schönen durchaus anſehen.
§. 34.
Dieſe Zufälligkeit, wie ſehr ſich dadurch der Gegenſatz zwiſchen den Be- ſtimmungen dieſes und den Beſtimmungen des erſten Moments, der Idee, zum Widerſpruch ſteigern mag, iſt Geſetz im Schönen. Denn wenn aus der Allge- meinheit und Nothwendigkeit der Idee heraus die Abſtraction einer Geſtalt und ihrer Bewegungen abgeleitet würde, die ohne alle Abweichung ihrem Gat- tungsbegriff entſpräche, ſo ließe ſich nicht jener Schein der Verwirklichung der Idee begründen, welcher in §. 13 gefordert iſt. Der Widerſpruch aber iſt aller- dings erſt zu löſen.
Auch hier iſt, um die Sache in ihrer Conſequenz klar zu machen, vorläufig an die Kunſt zu erinnern. Mathematiſcher Charakter des abſtracten Idealismus. Der Künſtler: auch er geht, wie ſich zeigen wird, in ſeinem Schaffen vom Zufall aus. Der Grund aber, warum alle Kunſt Todtes hervorbringt, wenn ſie den Charakter der Zufälligkeit opfert, iſt in der Metaphyſik des Schönen aufzuſtellen. Die Idee er- ſcheint nämlich nicht als wirklich, wenn das, was ihre Verwirklichung zu ſtören ſcheint, weggelaſſen wird. Wenn ſich z. B. im Drama ein Charakter, weil er durch Lokal-Einflüſſe, Temperament, Erziehung u. ſ. w. ſchon anderwärts beſtimmt iſt, mit dem ihm zugetheilten Pathos nur ſchwer und widerſtrebend durchdringt, dann erſt erſcheint dieſes in ſeiner Kraft; je planer es dagegen mit jenem zuſammenfällt, deſto unmächtiger erſcheint es. Hier aber iſt noch nicht von der Löſung die Rede; es iſt zuerſt nur der Gegenſatz des idealen und des realen Moments im Schönen bis zum vollen Widerſpruch hervorzuheben; die Spitze desſelben iſt jedoch mit dem Bisherigen noch nicht ausgeſprochen.
§. 35.
Da alſo immer beides, die Regel, welche durch die Gattung, und die Abweichung, welche durch die Zufälligkeit des Individuums gegeben iſt, in der Geſtalt ſich vereinigt, ſo erhellt, daß keine Beſtimmtheit derſelben aufzufinden iſt, welche als Merkmal oder Richtmaß der Schönheit gelten könnte. Es iſt
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hebt ihn erſt in den Zuſammenhang der ſittlichen Ordnung. Das Lebendige
wählt, aber zum Wählen muß etwas da ſeyn; es nimmt es daher, wie es
kommt: dies muß man dem Schönen durchaus anſehen.
§. 34.
Dieſe Zufälligkeit, wie ſehr ſich dadurch der Gegenſatz zwiſchen den Be-
ſtimmungen dieſes und den Beſtimmungen des erſten Moments, der Idee, zum
Widerſpruch ſteigern mag, iſt Geſetz im Schönen. Denn wenn aus der Allge-
meinheit und Nothwendigkeit der Idee heraus die Abſtraction einer Geſtalt
und ihrer Bewegungen abgeleitet würde, die ohne alle Abweichung ihrem Gat-
tungsbegriff entſpräche, ſo ließe ſich nicht jener Schein der Verwirklichung der
Idee begründen, welcher in §. 13 gefordert iſt. Der Widerſpruch aber iſt aller-
dings erſt zu löſen.
Auch hier iſt, um die Sache in ihrer Conſequenz klar zu machen,
vorläufig an die Kunſt zu erinnern. Mathematiſcher Charakter des
abſtracten Idealismus. Der Künſtler: auch er geht, wie ſich zeigen
wird, in ſeinem Schaffen vom Zufall aus. Der Grund aber, warum
alle Kunſt Todtes hervorbringt, wenn ſie den Charakter der Zufälligkeit
opfert, iſt in der Metaphyſik des Schönen aufzuſtellen. Die Idee er-
ſcheint nämlich nicht als wirklich, wenn das, was ihre Verwirklichung zu
ſtören ſcheint, weggelaſſen wird. Wenn ſich z. B. im Drama ein Charakter,
weil er durch Lokal-Einflüſſe, Temperament, Erziehung u. ſ. w. ſchon
anderwärts beſtimmt iſt, mit dem ihm zugetheilten Pathos nur ſchwer
und widerſtrebend durchdringt, dann erſt erſcheint dieſes in ſeiner Kraft; je
planer es dagegen mit jenem zuſammenfällt, deſto unmächtiger erſcheint
es. Hier aber iſt noch nicht von der Löſung die Rede; es iſt zuerſt nur
der Gegenſatz des idealen und des realen Moments im Schönen bis
zum vollen Widerſpruch hervorzuheben; die Spitze desſelben iſt jedoch
mit dem Bisherigen noch nicht ausgeſprochen.
§. 35.
Da alſo immer beides, die Regel, welche durch die Gattung, und die
Abweichung, welche durch die Zufälligkeit des Individuums gegeben iſt, in der
Geſtalt ſich vereinigt, ſo erhellt, daß keine Beſtimmtheit derſelben aufzufinden
iſt, welche als Merkmal oder Richtmaß der Schönheit gelten könnte. Es iſt
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/110>, abgerufen am 23.11.2024.
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