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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Achtzehnte Vorlesung.
Gehirn oder die Leber, so konnte, so lange als man innerhalb
des Gehirns nichts weiter als Nervenmasse sah, in der Leber
nichts weiter als Gefässe und Leberzellen statuirte, eine Neu-
bildung ohne Dazwischenkommen eines besonderen Bildungs-
stoffes kaum gedacht werden. Denn davon war es ja leicht,
sich zu überzeugen, dass in der Regel in der Leber die Neu-
bildungen nicht von den Leberzellen oder den Gefässen aus-
gehen. Dass in der Hirnsubstanz die Nerven nicht als solche
die Neubildungen hervorbringen, das weiss man so lange, als
man das Mikroskop anwendet, denn seitdem ist es bekannt,
dass die Markschwämme nicht wuchernde Nervenmasse sind,
sondern aus zelligen Elementen anderer Art bestehen. In der
That erscheint uns, wie zuerst Reichert hervorgehoben hat,
der Körper gegenwärtig aus einer mehr oder weniger zusam-
menhängenden Masse von bindegewebsartigen Bestandtheilen zu-
sammengesetzt, in welche an gewissen Punkten andere Dinge,
wie z. B. Muskeln und Nerven, eingesetzt sind. Innerhalb
dieses mehr oder weniger zusammenhängenden Gerüstes ist es,
wo nach meinen Untersuchungen die eigentliche Neubildung
vor sich geht, und zwar genau nach demselben Gesetz, nach
welchem die embryonale Entwickelung geschieht.

Das Gesetz von der Uebereinstimmung der embryonalen
und pathologischen Entwickelung ist, wie Sie wissen, schon
von Johannes Müller, der auf den Untersuchungen von
Schwann fortbaute, formulirt worden. Allein damals setzte
man den Inhalt eines Ovulums dem Blasteme gleich; man
dachte nicht daran, dass alle Entwickelung im Ei innerhalb
der gegebenen Grenzen der Zelle geschehe, sondern man schloss
einfach, dass im Ovulum eine gewisse Menge von bildungsfä-
higem Material gegeben sei, welches vermöge einer ihm inne-
wohnenden Eigenthümlichkeit, vermöge einer organisatorischen
Kraft oder, vom Standpunkte der "höheren" Anschauung aus
durch eine organisatorische Idee getrieben, sich in diese oder
jene besondere Form umgestaltete. Allein auch hier hat man
sich allmählig überzeugt, dass man es eben mit einer zelligen
Substanz zu thun hat, und, wenn es richtig ist, was am
schärfsten von Remak versucht worden ist, dass die Dotter-
furchung eben auch auf einer sichtbaren Theilung von Zellen,

Achtzehnte Vorlesung.
Gehirn oder die Leber, so konnte, so lange als man innerhalb
des Gehirns nichts weiter als Nervenmasse sah, in der Leber
nichts weiter als Gefässe und Leberzellen statuirte, eine Neu-
bildung ohne Dazwischenkommen eines besonderen Bildungs-
stoffes kaum gedacht werden. Denn davon war es ja leicht,
sich zu überzeugen, dass in der Regel in der Leber die Neu-
bildungen nicht von den Leberzellen oder den Gefässen aus-
gehen. Dass in der Hirnsubstanz die Nerven nicht als solche
die Neubildungen hervorbringen, das weiss man so lange, als
man das Mikroskop anwendet, denn seitdem ist es bekannt,
dass die Markschwämme nicht wuchernde Nervenmasse sind,
sondern aus zelligen Elementen anderer Art bestehen. In der
That erscheint uns, wie zuerst Reichert hervorgehoben hat,
der Körper gegenwärtig aus einer mehr oder weniger zusam-
menhängenden Masse von bindegewebsartigen Bestandtheilen zu-
sammengesetzt, in welche an gewissen Punkten andere Dinge,
wie z. B. Muskeln und Nerven, eingesetzt sind. Innerhalb
dieses mehr oder weniger zusammenhängenden Gerüstes ist es,
wo nach meinen Untersuchungen die eigentliche Neubildung
vor sich geht, und zwar genau nach demselben Gesetz, nach
welchem die embryonale Entwickelung geschieht.

Das Gesetz von der Uebereinstimmung der embryonalen
und pathologischen Entwickelung ist, wie Sie wissen, schon
von Johannes Müller, der auf den Untersuchungen von
Schwann fortbaute, formulirt worden. Allein damals setzte
man den Inhalt eines Ovulums dem Blasteme gleich; man
dachte nicht daran, dass alle Entwickelung im Ei innerhalb
der gegebenen Grenzen der Zelle geschehe, sondern man schloss
einfach, dass im Ovulum eine gewisse Menge von bildungsfä-
higem Material gegeben sei, welches vermöge einer ihm inne-
wohnenden Eigenthümlichkeit, vermöge einer organisatorischen
Kraft oder, vom Standpunkte der „höheren“ Anschauung aus
durch eine organisatorische Idee getrieben, sich in diese oder
jene besondere Form umgestaltete. Allein auch hier hat man
sich allmählig überzeugt, dass man es eben mit einer zelligen
Substanz zu thun hat, und, wenn es richtig ist, was am
schärfsten von Remak versucht worden ist, dass die Dotter-
furchung eben auch auf einer sichtbaren Theilung von Zellen,

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[356/0378] Achtzehnte Vorlesung. Gehirn oder die Leber, so konnte, so lange als man innerhalb des Gehirns nichts weiter als Nervenmasse sah, in der Leber nichts weiter als Gefässe und Leberzellen statuirte, eine Neu- bildung ohne Dazwischenkommen eines besonderen Bildungs- stoffes kaum gedacht werden. Denn davon war es ja leicht, sich zu überzeugen, dass in der Regel in der Leber die Neu- bildungen nicht von den Leberzellen oder den Gefässen aus- gehen. Dass in der Hirnsubstanz die Nerven nicht als solche die Neubildungen hervorbringen, das weiss man so lange, als man das Mikroskop anwendet, denn seitdem ist es bekannt, dass die Markschwämme nicht wuchernde Nervenmasse sind, sondern aus zelligen Elementen anderer Art bestehen. In der That erscheint uns, wie zuerst Reichert hervorgehoben hat, der Körper gegenwärtig aus einer mehr oder weniger zusam- menhängenden Masse von bindegewebsartigen Bestandtheilen zu- sammengesetzt, in welche an gewissen Punkten andere Dinge, wie z. B. Muskeln und Nerven, eingesetzt sind. Innerhalb dieses mehr oder weniger zusammenhängenden Gerüstes ist es, wo nach meinen Untersuchungen die eigentliche Neubildung vor sich geht, und zwar genau nach demselben Gesetz, nach welchem die embryonale Entwickelung geschieht. Das Gesetz von der Uebereinstimmung der embryonalen und pathologischen Entwickelung ist, wie Sie wissen, schon von Johannes Müller, der auf den Untersuchungen von Schwann fortbaute, formulirt worden. Allein damals setzte man den Inhalt eines Ovulums dem Blasteme gleich; man dachte nicht daran, dass alle Entwickelung im Ei innerhalb der gegebenen Grenzen der Zelle geschehe, sondern man schloss einfach, dass im Ovulum eine gewisse Menge von bildungsfä- higem Material gegeben sei, welches vermöge einer ihm inne- wohnenden Eigenthümlichkeit, vermöge einer organisatorischen Kraft oder, vom Standpunkte der „höheren“ Anschauung aus durch eine organisatorische Idee getrieben, sich in diese oder jene besondere Form umgestaltete. Allein auch hier hat man sich allmählig überzeugt, dass man es eben mit einer zelligen Substanz zu thun hat, und, wenn es richtig ist, was am schärfsten von Remak versucht worden ist, dass die Dotter- furchung eben auch auf einer sichtbaren Theilung von Zellen,

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/378>, abgerufen am 24.11.2024.