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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Vierzehnte Vorlesung.
sie wer weiss was Alles versucht hatten, mechanische, chemi-
sche und elektrische Reize, zuletzt zu dem Schlusse kamen, es
gebe überhaupt kein Reizmittel für die Flimmerbewegung.
Ich hatte das Glück, zufällig auf die eigenthümliche Thatsache
zu stossen, dass Kali und Natron solche Reizmittel seien.
Gewiss können wir hier keinen Nerveneinfluss mehr zu Hülfe
rufen; derselbe erscheint um so weniger zulässig, als nach
bekannten Erfahrungen die Flimmerbewegung im todten Kör-
per sich in einer Zeit erhält, wo andere Theile schon zu fau-
len angefangen haben. Die Flimmer-Epithelien der Stirnhöhlen
und der Trachea findet man in menschlichen Leichen noch
36--48 Stunden post mortem in vollständiger Erregbarkeit,
wo jede Spur von Erregbarkeit in den übrigen Theilen längst
verschwunden ist.

Aehnlich verhält es sich mit den übrigen erregbaren Thei-
len. Fast überall sehen wir, dass gewisse Erregungsmittel
leichter als andere wirken, während andere gar nicht im
Stande sind, einen erheblichen Effect hervorzubringen. Fast
überall ergeben sich specifische Beziehungen. Wenn wir
die Drüsen z. B. ins Auge fassen, so ist es eine bekannte
Thatsache, dass es specifische Substanzen gibt, wodurch
wir im Stande sind, auf die eine Drüse zu wirken, nicht
auf die anderen, die specifische Energie einer Drüse zu
treffen, während die übrigen unbetheiligt bleiben. Bei
den Drüsen lässt sich ungleich schwieriger die Wirkung
der Nerven ausschliessen, als beim Flimmer-Epithel, allein wir
haben gewisse Versuche, wo man nach Durchschneidung aller
Nerven, z. B. an der Leber, durch Injection im Stande gewe-
sen ist, eine vermehrte Absonderung des Organes hervorzuru-
fen, indem man Stoffe anwandte, welche erfahrungsmässig zu
dem Organe eine nähere Beziehung haben.

Am meisten hat sich, wie Sie wissen werden, diese Dis-
cussion in neuerer Zeit concentrirt auf die Frage von der
Muskel-Irritabilität, eine Frage, welche gerade deshalb so
schwierig gewesen ist, weil sie von Haller mit einer grossen
Exclusion eben auf dieses einzelne Gebiet reducirt wurde.
Haller kämpfte aufs Aeusserste dagegen, dass irgend ein an-
derer Theil irritabel wäre; sonderbarer Weise kämpfte er

Vierzehnte Vorlesung.
sie wer weiss was Alles versucht hatten, mechanische, chemi-
sche und elektrische Reize, zuletzt zu dem Schlusse kamen, es
gebe überhaupt kein Reizmittel für die Flimmerbewegung.
Ich hatte das Glück, zufällig auf die eigenthümliche Thatsache
zu stossen, dass Kali und Natron solche Reizmittel seien.
Gewiss können wir hier keinen Nerveneinfluss mehr zu Hülfe
rufen; derselbe erscheint um so weniger zulässig, als nach
bekannten Erfahrungen die Flimmerbewegung im todten Kör-
per sich in einer Zeit erhält, wo andere Theile schon zu fau-
len angefangen haben. Die Flimmer-Epithelien der Stirnhöhlen
und der Trachea findet man in menschlichen Leichen noch
36—48 Stunden post mortem in vollständiger Erregbarkeit,
wo jede Spur von Erregbarkeit in den übrigen Theilen längst
verschwunden ist.

Aehnlich verhält es sich mit den übrigen erregbaren Thei-
len. Fast überall sehen wir, dass gewisse Erregungsmittel
leichter als andere wirken, während andere gar nicht im
Stande sind, einen erheblichen Effect hervorzubringen. Fast
überall ergeben sich specifische Beziehungen. Wenn wir
die Drüsen z. B. ins Auge fassen, so ist es eine bekannte
Thatsache, dass es specifische Substanzen gibt, wodurch
wir im Stande sind, auf die eine Drüse zu wirken, nicht
auf die anderen, die specifische Energie einer Drüse zu
treffen, während die übrigen unbetheiligt bleiben. Bei
den Drüsen lässt sich ungleich schwieriger die Wirkung
der Nerven ausschliessen, als beim Flimmer-Epithel, allein wir
haben gewisse Versuche, wo man nach Durchschneidung aller
Nerven, z. B. an der Leber, durch Injection im Stande gewe-
sen ist, eine vermehrte Absonderung des Organes hervorzuru-
fen, indem man Stoffe anwandte, welche erfahrungsmässig zu
dem Organe eine nähere Beziehung haben.

Am meisten hat sich, wie Sie wissen werden, diese Dis-
cussion in neuerer Zeit concentrirt auf die Frage von der
Muskel-Irritabilität, eine Frage, welche gerade deshalb so
schwierig gewesen ist, weil sie von Haller mit einer grossen
Exclusion eben auf dieses einzelne Gebiet reducirt wurde.
Haller kämpfte aufs Aeusserste dagegen, dass irgend ein an-
derer Theil irritabel wäre; sonderbarer Weise kämpfte er

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[264/0286] Vierzehnte Vorlesung. sie wer weiss was Alles versucht hatten, mechanische, chemi- sche und elektrische Reize, zuletzt zu dem Schlusse kamen, es gebe überhaupt kein Reizmittel für die Flimmerbewegung. Ich hatte das Glück, zufällig auf die eigenthümliche Thatsache zu stossen, dass Kali und Natron solche Reizmittel seien. Gewiss können wir hier keinen Nerveneinfluss mehr zu Hülfe rufen; derselbe erscheint um so weniger zulässig, als nach bekannten Erfahrungen die Flimmerbewegung im todten Kör- per sich in einer Zeit erhält, wo andere Theile schon zu fau- len angefangen haben. Die Flimmer-Epithelien der Stirnhöhlen und der Trachea findet man in menschlichen Leichen noch 36—48 Stunden post mortem in vollständiger Erregbarkeit, wo jede Spur von Erregbarkeit in den übrigen Theilen längst verschwunden ist. Aehnlich verhält es sich mit den übrigen erregbaren Thei- len. Fast überall sehen wir, dass gewisse Erregungsmittel leichter als andere wirken, während andere gar nicht im Stande sind, einen erheblichen Effect hervorzubringen. Fast überall ergeben sich specifische Beziehungen. Wenn wir die Drüsen z. B. ins Auge fassen, so ist es eine bekannte Thatsache, dass es specifische Substanzen gibt, wodurch wir im Stande sind, auf die eine Drüse zu wirken, nicht auf die anderen, die specifische Energie einer Drüse zu treffen, während die übrigen unbetheiligt bleiben. Bei den Drüsen lässt sich ungleich schwieriger die Wirkung der Nerven ausschliessen, als beim Flimmer-Epithel, allein wir haben gewisse Versuche, wo man nach Durchschneidung aller Nerven, z. B. an der Leber, durch Injection im Stande gewe- sen ist, eine vermehrte Absonderung des Organes hervorzuru- fen, indem man Stoffe anwandte, welche erfahrungsmässig zu dem Organe eine nähere Beziehung haben. Am meisten hat sich, wie Sie wissen werden, diese Dis- cussion in neuerer Zeit concentrirt auf die Frage von der Muskel-Irritabilität, eine Frage, welche gerade deshalb so schwierig gewesen ist, weil sie von Haller mit einer grossen Exclusion eben auf dieses einzelne Gebiet reducirt wurde. Haller kämpfte aufs Aeusserste dagegen, dass irgend ein an- derer Theil irritabel wäre; sonderbarer Weise kämpfte er

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/286>, abgerufen am 24.11.2024.