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Schlegel, Dorothea von: Florentin. Hrsg. v. Friedrich Schlegel. Lübeck u. a., 1801.

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Alle erwachsenen Leute erschienen mir
nicht allein mürrisch und hart, sondern ganz
unverständig und blind, ihre Befehle und
Verbote sinnlos und abgeschmackt. Darinn
ward ich besonders durch einen Zufall aus dem
ersten Jahre meines widrigen Lebens bestärkt;
ich war nemlich einmal mit meiner Schwester
im Zimmer meiner Mutter, sie wollte unsre
Fähigkeit im Lefen prüfen. Zufällig war kein
andres Buch in der Nähe, als ein Gedicht,
das meine Mutter eben gelesen hatte. Jch
las einige Verse, in denen das Glück der
Kindheit gepriesen ward; meine Mutter war
mit der Fertigkeit, womit sie gelesen wurden,
zufrieden, und rühmte, indem sie sich zum
Pater wandte, die Schönheit der Verse, und
die rührende Wahrheit des Jnhalts; der Pa-
ter stimmte laut mit ein. Schwache Geschöp-
fe, die in solcher Abhängigkeit leben müssen,
glücklich zu preisen, zu beneiden, das war zu
toll! Jch ward ganz wüthend, weinte, und
war durch nichts zu bewegen, noch weiter zu
lesen, und mußte die Strafe für meinen Ei-

Alle erwachſenen Leute erſchienen mir
nicht allein muͤrriſch und hart, ſondern ganz
unverſtaͤndig und blind, ihre Befehle und
Verbote ſinnlos und abgeſchmackt. Darinn
ward ich beſonders durch einen Zufall aus dem
erſten Jahre meines widrigen Lebens beſtaͤrkt;
ich war nemlich einmal mit meiner Schweſter
im Zimmer meiner Mutter, ſie wollte unſre
Faͤhigkeit im Lefen pruͤfen. Zufaͤllig war kein
andres Buch in der Naͤhe, als ein Gedicht,
das meine Mutter eben geleſen hatte. Jch
las einige Verſe, in denen das Gluͤck der
Kindheit geprieſen ward; meine Mutter war
mit der Fertigkeit, womit ſie geleſen wurden,
zufrieden, und ruͤhmte, indem ſie ſich zum
Pater wandte, die Schoͤnheit der Verſe, und
die ruͤhrende Wahrheit des Jnhalts; der Pa-
ter ſtimmte laut mit ein. Schwache Geſchoͤp-
fe, die in ſolcher Abhaͤngigkeit leben muͤſſen,
gluͤcklich zu preiſen, zu beneiden, das war zu
toll! Jch ward ganz wuͤthend, weinte, und
war durch nichts zu bewegen, noch weiter zu
leſen, und mußte die Strafe fuͤr meinen Ei-

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[105/0113] Alle erwachſenen Leute erſchienen mir nicht allein muͤrriſch und hart, ſondern ganz unverſtaͤndig und blind, ihre Befehle und Verbote ſinnlos und abgeſchmackt. Darinn ward ich beſonders durch einen Zufall aus dem erſten Jahre meines widrigen Lebens beſtaͤrkt; ich war nemlich einmal mit meiner Schweſter im Zimmer meiner Mutter, ſie wollte unſre Faͤhigkeit im Lefen pruͤfen. Zufaͤllig war kein andres Buch in der Naͤhe, als ein Gedicht, das meine Mutter eben geleſen hatte. Jch las einige Verſe, in denen das Gluͤck der Kindheit geprieſen ward; meine Mutter war mit der Fertigkeit, womit ſie geleſen wurden, zufrieden, und ruͤhmte, indem ſie ſich zum Pater wandte, die Schoͤnheit der Verſe, und die ruͤhrende Wahrheit des Jnhalts; der Pa- ter ſtimmte laut mit ein. Schwache Geſchoͤp- fe, die in ſolcher Abhaͤngigkeit leben muͤſſen, gluͤcklich zu preiſen, zu beneiden, das war zu toll! Jch ward ganz wuͤthend, weinte, und war durch nichts zu bewegen, noch weiter zu leſen, und mußte die Strafe fuͤr meinen Ei-

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Zitationshilfe: Schlegel, Dorothea von: Florentin. Hrsg. v. Friedrich Schlegel. Lübeck u. a., 1801, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/veitschlegel_florentin_1801/113>, abgerufen am 12.05.2024.