Meinungen sind verderbt, verderben sich leicht; weil sie nicht philosophisch genug behandelt werden, und müssen immer wie- der an's Sonnenlicht gezogen, und verworfen werden; eben wie untauglich gewordene Nahrung: Speise und Trank.
An Oelsner, in Paris.
Berlin, den 28. November 1822.
Donnerstag, 11 Uhr, in meinem Bette. Dunstiges, feucht- liches, graues Wetter: noch kein Frost, noch kein Schnee. Dies Letzte, damit Sie nicht denken, daß Sie auch dies in Paris voraus hätten; das Erste, um Ihnen gleich zu zeigen, daß ich Rheumatism zu pflegen habe, und Sie mir sowohl mein Nichtschreiben als mein Schreiben zu Gute halten! "Ich wünschte meine Schuld in Person abzutragen, schreiben Sie mir in Ihrem letzten Briefe, denn die Empfindung bedarf der Gebärde und der Stimme." Sie bedarf -- und sie allein -- der ganzen Welt, und vermißt am meisten Gebärde und Stimme. Wie soll es mir nun aber gehen, da ich ohne weiteres stupid bin, wenn mich das Herz nicht aufrührt, was soll ich nun mit tonloser Feder und stiller schwarzer Dinte anfangen, wenn ich einen Brief seit Juli habe liegen lassen; in welchem Monat ich schon leidend und gestört auf manche Weise war. Grau in grau kommt mir die Welt vor: hab' ich recht, oder stecken sie mir meine Haare bloß an? Mich dünkt, die politischen Fragen und die den geselligen Umgang betreffenden, sind abgesprochen, abgewitzt und abgelebt. Die
Meinungen ſind verderbt, verderben ſich leicht; weil ſie nicht philoſophiſch genug behandelt werden, und müſſen immer wie- der an’s Sonnenlicht gezogen, und verworfen werden; eben wie untauglich gewordene Nahrung: Speiſe und Trank.
An Oelsner, in Paris.
Berlin, den 28. November 1822.
Donnerstag, 11 Uhr, in meinem Bette. Dunſtiges, feucht- liches, graues Wetter: noch kein Froſt, noch kein Schnee. Dies Letzte, damit Sie nicht denken, daß Sie auch dies in Paris voraus hätten; das Erſte, um Ihnen gleich zu zeigen, daß ich Rheumatism zu pflegen habe, und Sie mir ſowohl mein Nichtſchreiben als mein Schreiben zu Gute halten! „Ich wünſchte meine Schuld in Perſon abzutragen, ſchreiben Sie mir in Ihrem letzten Briefe, denn die Empfindung bedarf der Gebärde und der Stimme.“ Sie bedarf — und ſie allein — der ganzen Welt, und vermißt am meiſten Gebärde und Stimme. Wie ſoll es mir nun aber gehen, da ich ohne weiteres ſtupid bin, wenn mich das Herz nicht aufrührt, was ſoll ich nun mit tonloſer Feder und ſtiller ſchwarzer Dinte anfangen, wenn ich einen Brief ſeit Juli habe liegen laſſen; in welchem Monat ich ſchon leidend und geſtört auf manche Weiſe war. Grau in grau kommt mir die Welt vor: hab’ ich recht, oder ſtecken ſie mir meine Haare bloß an? Mich dünkt, die politiſchen Fragen und die den geſelligen Umgang betreffenden, ſind abgeſprochen, abgewitzt und abgelebt. Die
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Meinungen ſind verderbt, verderben ſich leicht; weil ſie nicht
philoſophiſch genug behandelt werden, und müſſen immer wie-
der an’s Sonnenlicht gezogen, und verworfen werden; eben
wie untauglich gewordene Nahrung: Speiſe und Trank.
An Oelsner, in Paris.
Berlin, den 28. November 1822.
Donnerstag, 11 Uhr, in meinem Bette. Dunſtiges, feucht-
liches, graues Wetter: noch kein Froſt, noch kein Schnee.
Dies Letzte, damit Sie nicht denken, daß Sie auch dies in
Paris voraus hätten; das Erſte, um Ihnen gleich zu zeigen,
daß ich Rheumatism zu pflegen habe, und Sie mir ſowohl
mein Nichtſchreiben als mein Schreiben zu Gute halten! „Ich
wünſchte meine Schuld in Perſon abzutragen, ſchreiben Sie
mir in Ihrem letzten Briefe, denn die Empfindung bedarf der
Gebärde und der Stimme.“ Sie bedarf — und ſie allein —
der ganzen Welt, und vermißt am meiſten Gebärde und
Stimme. Wie ſoll es mir nun aber gehen, da ich ohne
weiteres ſtupid bin, wenn mich das Herz nicht aufrührt, was
ſoll ich nun mit tonloſer Feder und ſtiller ſchwarzer Dinte
anfangen, wenn ich einen Brief ſeit Juli habe liegen laſſen;
in welchem Monat ich ſchon leidend und geſtört auf manche
Weiſe war. Grau in grau kommt mir die Welt vor: hab’
ich recht, oder ſtecken ſie mir meine Haare bloß an? Mich
dünkt, die politiſchen Fragen und die den geſelligen Umgang
betreffenden, ſind abgeſprochen, abgewitzt und abgelebt. Die
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/92>, abgerufen am 24.11.2024.
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