Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

das Volk aller Klassen versiegelt sein Leben, und alle Pulse,
und ergiebt sich darein; noch ganz voll Sittlichkeitsstolz. Wie
stupid sehen Sie auch Alle aus! Über vierzig nicht mehr zu
ertragen. Ich will sie auch nicht sehen, nicht kennen. --

Sie sind jung, lieber Freund; lieben, sind glücklich, haben
eine reizende Geliebte; einen Freund -- mich, -- das herr-
lichste Kindergemüth: alle Ihre Jugendschwächen; wollen Rath
und finden Rath; wie vor dreißig Jahren auf meinem Kana-
pee, ehe Sie zu Ihrem Vater gingen, um aus Berlin zu ge-
hen. Nichts ist verloren; Einkünfte kommen wieder; andre.
Die Welt -- die olle politische -- schwingt sich um: und Sie
stehen ihr wieder en face. Nur mißkennen Sie ihre Ent-
wickelung nicht so, daß Sie selbst sagen, Sie kennten sie nicht
mehr. "Dieser paradoxe Satz wird bald ein Gemeinplatz
werden," muß man von Hamlet nie vergessen. Es sind jetzt
andere Gemeinplätze in Umlauf; nie wird man die wieder für
Paradoxe halten wollen. Der Geist der Zeit ist nichts als die
jedesmal allgemein gewordene Überzeugung. Horchen Sie da-
hin: agiren Sie mit der, durch die! --


Ich Ihnen Politik! -- Sie, die allgemeine Überzeugung
muß Ihnen dienen, sie sei Ihnen ein Instrument. Überwin-
den Sie den Abscheu; kommen Sie ihr zuvor: Lenker bedarf
eine jede. -- Machen Sie face; lassen Sie das Heft nicht
aus den Händen, senken Sie Kopf, Feder, -- wie Krieger
das Schwert -- nicht als überwunden: sprechen Sie sich das
besonders nicht selbst aus!! und sehen Sie nicht nur die

31 *

das Volk aller Klaſſen verſiegelt ſein Leben, und alle Pulſe,
und ergiebt ſich darein; noch ganz voll Sittlichkeitsſtolz. Wie
ſtupid ſehen Sie auch Alle aus! Über vierzig nicht mehr zu
ertragen. Ich will ſie auch nicht ſehen, nicht kennen. —

Sie ſind jung, lieber Freund; lieben, ſind glücklich, haben
eine reizende Geliebte; einen Freund — mich, — das herr-
lichſte Kindergemüth: alle Ihre Jugendſchwächen; wollen Rath
und finden Rath; wie vor dreißig Jahren auf meinem Kana-
pee, ehe Sie zu Ihrem Vater gingen, um aus Berlin zu ge-
hen. Nichts iſt verloren; Einkünfte kommen wieder; andre.
Die Welt — die olle politiſche — ſchwingt ſich um: und Sie
ſtehen ihr wieder en face. Nur mißkennen Sie ihre Ent-
wickelung nicht ſo, daß Sie ſelbſt ſagen, Sie kennten ſie nicht
mehr. „Dieſer paradoxe Satz wird bald ein Gemeinplatz
werden,“ muß man von Hamlet nie vergeſſen. Es ſind jetzt
andere Gemeinplätze in Umlauf; nie wird man die wieder für
Paradoxe halten wollen. Der Geiſt der Zeit iſt nichts als die
jedesmal allgemein gewordene Überzeugung. Horchen Sie da-
hin: agiren Sie mit der, durch die! —


Ich Ihnen Politik! — Sie, die allgemeine Überzeugung
muß Ihnen dienen, ſie ſei Ihnen ein Inſtrument. Überwin-
den Sie den Abſcheu; kommen Sie ihr zuvor: Lenker bedarf
eine jede. — Machen Sie face; laſſen Sie das Heft nicht
aus den Händen, ſenken Sie Kopf, Feder, — wie Krieger
das Schwert — nicht als überwunden: ſprechen Sie ſich das
beſonders nicht ſelbſt aus!! und ſehen Sie nicht nur die

31 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0491" n="483"/>
das Volk aller Kla&#x017F;&#x017F;en ver&#x017F;iegelt &#x017F;ein Leben, und alle Pul&#x017F;e,<lb/>
und ergiebt &#x017F;ich darein; noch ganz voll Sittlichkeits&#x017F;tolz. Wie<lb/>
&#x017F;tupid &#x017F;ehen Sie auch Alle aus! Über vierzig nicht mehr zu<lb/>
ertragen. Ich will &#x017F;ie auch nicht &#x017F;ehen, nicht kennen. &#x2014;</p><lb/>
            <p>Sie &#x017F;ind jung, lieber Freund; lieben, &#x017F;ind glücklich, haben<lb/>
eine reizende Geliebte; einen Freund &#x2014; <hi rendition="#g">mich</hi>, &#x2014; das herr-<lb/>
lich&#x017F;te Kindergemüth: alle Ihre Jugend&#x017F;chwächen; wollen Rath<lb/>
und finden Rath; wie vor dreißig Jahren auf meinem Kana-<lb/>
pee, ehe Sie zu Ihrem Vater gingen, um aus Berlin zu ge-<lb/>
hen. <hi rendition="#g">Nichts</hi> i&#x017F;t verloren; Einkünfte kommen wieder; andre.<lb/>
Die Welt &#x2014; die olle politi&#x017F;che &#x2014; &#x017F;chwingt &#x017F;ich um: und Sie<lb/>
&#x017F;tehen ihr <hi rendition="#g">wieder</hi> <hi rendition="#aq">en face.</hi> Nur mißkennen Sie ihre Ent-<lb/>
wickelung nicht &#x017F;o, daß Sie &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;agen, Sie kennten &#x017F;ie nicht<lb/>
mehr. &#x201E;Die&#x017F;er paradoxe Satz wird bald ein Gemeinplatz<lb/>
werden,&#x201C; muß man von Hamlet nie verge&#x017F;&#x017F;en. Es &#x017F;ind jetzt<lb/>
andere Gemeinplätze in Umlauf; nie wird man die wieder für<lb/>
Paradoxe halten wollen. Der Gei&#x017F;t der Zeit i&#x017F;t nichts als die<lb/>
jedesmal allgemein gewordene Überzeugung. Horchen Sie <hi rendition="#g">da</hi>-<lb/>
hin: agiren Sie mit der, durch <hi rendition="#g">die</hi>! &#x2014;</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Dienstag früh.</hi> </dateline><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Ich Ihnen</hi> Politik! &#x2014; Sie, die allgemeine Überzeugung<lb/>
muß Ihnen dienen, &#x017F;ie &#x017F;ei Ihnen ein In&#x017F;trument. Überwin-<lb/>
den Sie den Ab&#x017F;cheu; kommen Sie ihr zuvor: Lenker bedarf<lb/>
eine jede. &#x2014; Machen Sie <hi rendition="#aq">face;</hi> la&#x017F;&#x017F;en Sie das Heft nicht<lb/>
aus den Händen, &#x017F;enken Sie Kopf, Feder, &#x2014; wie Krieger<lb/>
das Schwert &#x2014; nicht als überwunden: &#x017F;prechen Sie &#x017F;ich das<lb/><hi rendition="#g">be&#x017F;onders</hi> nicht &#x017F;elb&#x017F;t aus!! und &#x017F;ehen Sie nicht nur die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">31 *</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[483/0491] das Volk aller Klaſſen verſiegelt ſein Leben, und alle Pulſe, und ergiebt ſich darein; noch ganz voll Sittlichkeitsſtolz. Wie ſtupid ſehen Sie auch Alle aus! Über vierzig nicht mehr zu ertragen. Ich will ſie auch nicht ſehen, nicht kennen. — Sie ſind jung, lieber Freund; lieben, ſind glücklich, haben eine reizende Geliebte; einen Freund — mich, — das herr- lichſte Kindergemüth: alle Ihre Jugendſchwächen; wollen Rath und finden Rath; wie vor dreißig Jahren auf meinem Kana- pee, ehe Sie zu Ihrem Vater gingen, um aus Berlin zu ge- hen. Nichts iſt verloren; Einkünfte kommen wieder; andre. Die Welt — die olle politiſche — ſchwingt ſich um: und Sie ſtehen ihr wieder en face. Nur mißkennen Sie ihre Ent- wickelung nicht ſo, daß Sie ſelbſt ſagen, Sie kennten ſie nicht mehr. „Dieſer paradoxe Satz wird bald ein Gemeinplatz werden,“ muß man von Hamlet nie vergeſſen. Es ſind jetzt andere Gemeinplätze in Umlauf; nie wird man die wieder für Paradoxe halten wollen. Der Geiſt der Zeit iſt nichts als die jedesmal allgemein gewordene Überzeugung. Horchen Sie da- hin: agiren Sie mit der, durch die! — Dienstag früh. Ich Ihnen Politik! — Sie, die allgemeine Überzeugung muß Ihnen dienen, ſie ſei Ihnen ein Inſtrument. Überwin- den Sie den Abſcheu; kommen Sie ihr zuvor: Lenker bedarf eine jede. — Machen Sie face; laſſen Sie das Heft nicht aus den Händen, ſenken Sie Kopf, Feder, — wie Krieger das Schwert — nicht als überwunden: ſprechen Sie ſich das beſonders nicht ſelbſt aus!! und ſehen Sie nicht nur die 31 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/491
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/491>, abgerufen am 23.11.2024.