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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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ich sie so durchschaut habe -- das verstehe ich, -- sagte ein
Hamburger Jude, -- in dem Fach bin ich ein Ignorant --,
sogar geht eine leise Wolke, der Unzufriedenheit mit mir,
durch das Gemüth unserer geliebten Anna: und sie hat Recht,
liebe Rose. Ihr mußte es erscheinen, als hätte ich mich fast
gar nicht um die Familie bekümmert. Und diese Unzufrieden-
heit erschien mir, so innig, so schön-stolz, so leise, so wohl-
erzogen, so fein, und doch tief, daß ich das Mädchen erst da-
durch, recht in Tiefe und Stärke ihrer Affekte kennen lernte!
Der alte Ignorant. -- Meine Entschuldigung. Als die Damen
schon weit über acht Tage hier waren, erfuhr ich es erst; dann
besuchten sie mich; ich bat sie acht Tage voraus, und es
wurde mir wegen eines Onkels Abreise abgeschlagen. Nun
war Varnh. darüber, den ich in nichts zwingen kann, un-
gehalten. Ich hatte ihm die Damen sehr gelobt, wir wollten
sie möglichst viel sehn; das knapste ab: nun hatte Ernestine
einen Wagen, und ich wollte mit ihr zu ihnen hinaus nach
Charlottenburg: da fuhr sie dreimal! ohne es mich wissen zu
lassen. Inzwischen sah ich die Damen allein bei mir, leider
ohne weitre Gesellschaft für sie. Ich, immer krank: ein Be-
kannter, Dönhofsplatz; einer, Leipziger Thor; einer, am
Ephraimschen Garten. Viele weg, verreist: auf dem Lande:
ich zwinge es weder mit Kräften, Geld, noch Domestiken!
Sonst konnte ich selbst laufen; jetzt nichts mehr. Keiner,
kein Arzt, keiner als Dore weiß, was ich leide: die sieht's:
und weiß es aber auch nicht. (Schreiben kann ich auch nur
mit größter Noth, und Nachtheil. Zittern, Echauffement.) --
Die Damen immer par chemin et par voie; alles besehn, fe-

ich ſie ſo durchſchaut habe — das verſtehe ich, — ſagte ein
Hamburger Jude, — in dem Fach bin ich ein Ignorant —,
ſogar geht eine leiſe Wolke, der Unzufriedenheit mit mir,
durch das Gemüth unſerer geliebten Anna: und ſie hat Recht,
liebe Roſe. Ihr mußte es erſcheinen, als hätte ich mich faſt
gar nicht um die Familie bekümmert. Und dieſe Unzufrieden-
heit erſchien mir, ſo innig, ſo ſchön-ſtolz, ſo leiſe, ſo wohl-
erzogen, ſo fein, und doch tief, daß ich das Mädchen erſt da-
durch, recht in Tiefe und Stärke ihrer Affekte kennen lernte!
Der alte Ignorant. — Meine Entſchuldigung. Als die Damen
ſchon weit über acht Tage hier waren, erfuhr ich es erſt; dann
beſuchten ſie mich; ich bat ſie acht Tage voraus, und es
wurde mir wegen eines Onkels Abreiſe abgeſchlagen. Nun
war Varnh. darüber, den ich in nichts zwingen kann, un-
gehalten. Ich hatte ihm die Damen ſehr gelobt, wir wollten
ſie möglichſt viel ſehn; das knapſte ab: nun hatte Erneſtine
einen Wagen, und ich wollte mit ihr zu ihnen hinaus nach
Charlottenburg: da fuhr ſie dreimal! ohne es mich wiſſen zu
laſſen. Inzwiſchen ſah ich die Damen allein bei mir, leider
ohne weitre Geſellſchaft für ſie. Ich, immer krank: ein Be-
kannter, Dönhofsplatz; einer, Leipziger Thor; einer, am
Ephraimſchen Garten. Viele weg, verreiſt: auf dem Lande:
ich zwinge es weder mit Kräften, Geld, noch Domeſtiken!
Sonſt konnte ich ſelbſt laufen; jetzt nichts mehr. Keiner,
kein Arzt, keiner als Dore weiß, was ich leide: die ſieht’s:
und weiß es aber auch nicht. (Schreiben kann ich auch nur
mit größter Noth, und Nachtheil. Zittern, Echauffement.) —
Die Damen immer par chemin et par voie; alles beſehn, fê-

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[441/0449] ich ſie ſo durchſchaut habe — das verſtehe ich, — ſagte ein Hamburger Jude, — in dem Fach bin ich ein Ignorant —, ſogar geht eine leiſe Wolke, der Unzufriedenheit mit mir, durch das Gemüth unſerer geliebten Anna: und ſie hat Recht, liebe Roſe. Ihr mußte es erſcheinen, als hätte ich mich faſt gar nicht um die Familie bekümmert. Und dieſe Unzufrieden- heit erſchien mir, ſo innig, ſo ſchön-ſtolz, ſo leiſe, ſo wohl- erzogen, ſo fein, und doch tief, daß ich das Mädchen erſt da- durch, recht in Tiefe und Stärke ihrer Affekte kennen lernte! Der alte Ignorant. — Meine Entſchuldigung. Als die Damen ſchon weit über acht Tage hier waren, erfuhr ich es erſt; dann beſuchten ſie mich; ich bat ſie acht Tage voraus, und es wurde mir wegen eines Onkels Abreiſe abgeſchlagen. Nun war Varnh. darüber, den ich in nichts zwingen kann, un- gehalten. Ich hatte ihm die Damen ſehr gelobt, wir wollten ſie möglichſt viel ſehn; das knapſte ab: nun hatte Erneſtine einen Wagen, und ich wollte mit ihr zu ihnen hinaus nach Charlottenburg: da fuhr ſie dreimal! ohne es mich wiſſen zu laſſen. Inzwiſchen ſah ich die Damen allein bei mir, leider ohne weitre Geſellſchaft für ſie. Ich, immer krank: ein Be- kannter, Dönhofsplatz; einer, Leipziger Thor; einer, am Ephraimſchen Garten. Viele weg, verreiſt: auf dem Lande: ich zwinge es weder mit Kräften, Geld, noch Domeſtiken! Sonſt konnte ich ſelbſt laufen; jetzt nichts mehr. Keiner, kein Arzt, keiner als Dore weiß, was ich leide: die ſieht’s: und weiß es aber auch nicht. (Schreiben kann ich auch nur mit größter Noth, und Nachtheil. Zittern, Echauffement.) — Die Damen immer par chemin et par voie; alles beſehn, fê-

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/449>, abgerufen am 27.11.2024.