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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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größern Meister, als Cervantes, Goethe und Shakespeare,
zum Verfasser hat, und den ich Ihnen nach Maßgabe, daß
seine Ereignisse meinem geschwächten Gedächtnisse gegenwärtig
würden, vertrauen könnte; -- Gott weiß es; ich weiß es nicht
mehr: pflege ich zu sagen; -- da ich Ihnen alles vertrauen
kann: weil Sie alles begreifen. Heute hab' ich mit Gewalt
alles entfernt, selbst meine Nichtenkinder, um Ihnen schreiben
zu können. Und ich beginne mit Viktor Hugo. Derselbe
Grund, der Sie bestimmt, über diesen Gegenstand schweigen
zu wollen, der grade zwingt mich, über meinen Beifall mich
näher auszulassen. Zuerst, setz' ich es als eine Unmöglich-
keit
, daß wir über einen Autor, über einen Dichter, über
ein Werk der Kunst verschiedener Meinung sein können. Ich
habe nur die "Orientales" gelobt; und die sind vortrefflich!
Lesen Sie sie wieder. Die Sultanin, das feste Schloß, der
Derwisch und Ali-Pascha, die Schwester und die Brüder --
der Schleier heißt es, Sie sehn, ich weiß die Titel nicht recht --
die Badende u. s. w. u. s. w. Er glaubt nicht "que le na-
turel est rebattu,"
er hat so sehr "le sentiment du vrai,"
daß er die Wahrheit in Situationen, die unsren Sitten fremd
sind, zu ersehen weiß, er sieht, er übersetzt sie sich; er glaubt
nicht "que le faux est du neuf," weil er zu reich in der Wahr-
heit ist; nicht falsch faßt er die Natur auf, aber er sucht sie
für seine Schilderung außerhalb der europäischen Gesellschaft,
von der bis jetzt noch Paris der Mittelpunkt ist; er schickt
seine Empfindung in andres Klima, in einen andern Kreis
von Vorurtheilen und Sitten aus. Er ist voller Einsamkeit,
und Empfänglichkeit für das, was er hat sehen können, und

größern Meiſter, als Cervantes, Goethe und Shakeſpeare,
zum Verfaſſer hat, und den ich Ihnen nach Maßgabe, daß
ſeine Ereigniſſe meinem geſchwächten Gedächtniſſe gegenwärtig
würden, vertrauen könnte; — Gott weiß es; ich weiß es nicht
mehr: pflege ich zu ſagen; — da ich Ihnen alles vertrauen
kann: weil Sie alles begreifen. Heute hab’ ich mit Gewalt
alles entfernt, ſelbſt meine Nichtenkinder, um Ihnen ſchreiben
zu können. Und ich beginne mit Viktor Hugo. Derſelbe
Grund, der Sie beſtimmt, über dieſen Gegenſtand ſchweigen
zu wollen, der grade zwingt mich, über meinen Beifall mich
näher auszulaſſen. Zuerſt, ſetz’ ich es als eine Unmöglich-
keit
, daß wir über einen Autor, über einen Dichter, über
ein Werk der Kunſt verſchiedener Meinung ſein können. Ich
habe nur die „Orientales“ gelobt; und die ſind vortrefflich!
Leſen Sie ſie wieder. Die Sultanin, das feſte Schloß, der
Derwiſch und Ali-Paſcha, die Schweſter und die Brüder —
der Schleier heißt es, Sie ſehn, ich weiß die Titel nicht recht —
die Badende u. ſ. w. u. ſ. w. Er glaubt nicht „que le na-
turel est rebattu,“
er hat ſo ſehr „le sentiment du vrai,“
daß er die Wahrheit in Situationen, die unſren Sitten fremd
ſind, zu erſehen weiß, er ſieht, er überſetzt ſie ſich; er glaubt
nicht „que le faux est du neuf,“ weil er zu reich in der Wahr-
heit iſt; nicht falſch faßt er die Natur auf, aber er ſucht ſie
für ſeine Schilderung außerhalb der europäiſchen Geſellſchaft,
von der bis jetzt noch Paris der Mittelpunkt iſt; er ſchickt
ſeine Empfindung in andres Klima, in einen andern Kreis
von Vorurtheilen und Sitten aus. Er iſt voller Einſamkeit,
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[429/0437] größern Meiſter, als Cervantes, Goethe und Shakeſpeare, zum Verfaſſer hat, und den ich Ihnen nach Maßgabe, daß ſeine Ereigniſſe meinem geſchwächten Gedächtniſſe gegenwärtig würden, vertrauen könnte; — Gott weiß es; ich weiß es nicht mehr: pflege ich zu ſagen; — da ich Ihnen alles vertrauen kann: weil Sie alles begreifen. Heute hab’ ich mit Gewalt alles entfernt, ſelbſt meine Nichtenkinder, um Ihnen ſchreiben zu können. Und ich beginne mit Viktor Hugo. Derſelbe Grund, der Sie beſtimmt, über dieſen Gegenſtand ſchweigen zu wollen, der grade zwingt mich, über meinen Beifall mich näher auszulaſſen. Zuerſt, ſetz’ ich es als eine Unmöglich- keit, daß wir über einen Autor, über einen Dichter, über ein Werk der Kunſt verſchiedener Meinung ſein können. Ich habe nur die „Orientales“ gelobt; und die ſind vortrefflich! Leſen Sie ſie wieder. Die Sultanin, das feſte Schloß, der Derwiſch und Ali-Paſcha, die Schweſter und die Brüder — der Schleier heißt es, Sie ſehn, ich weiß die Titel nicht recht — die Badende u. ſ. w. u. ſ. w. Er glaubt nicht „que le na- turel est rebattu,“ er hat ſo ſehr „le sentiment du vrai,“ daß er die Wahrheit in Situationen, die unſren Sitten fremd ſind, zu erſehen weiß, er ſieht, er überſetzt ſie ſich; er glaubt nicht „que le faux est du neuf,“ weil er zu reich in der Wahr- heit iſt; nicht falſch faßt er die Natur auf, aber er ſucht ſie für ſeine Schilderung außerhalb der europäiſchen Geſellſchaft, von der bis jetzt noch Paris der Mittelpunkt iſt; er ſchickt ſeine Empfindung in andres Klima, in einen andern Kreis von Vorurtheilen und Sitten aus. Er iſt voller Einſamkeit, und Empfänglichkeit für das, was er hat ſehen können, und

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/437>, abgerufen am 28.11.2024.