und, wie alle vortrefflich gemachten, nicht nur einen Einzel- nen darstellend, sondern mit ihm auch das Allgemeine seiner Klasse bezeichnend: denn in welchem Einzelnen müßte ein Kunstblick die nicht finden; und ein Griff der Kunst die nicht fassen? Mad. de M. ist vortrefflich; man sieht sie: ich kenne sie: den jungen Mann, kenne ich wirklich. Der Mann, der Graf; sie leben. Und somit haben wir einen bedeutenden Roman -- unser Leben recht gesehn, ist immer der beste, und gewiß reichste -- fast versteckt unter neuem, leichten, angeneh- men Vortrag.
Und dennoch wünsche ich zu diesem Roman noch etwas hinzu: nämlich bewegteren, reicheren Welthintergrund. Der junge Mann selbst kann wohl geschildert werden, durch Ka- rakteranlagen, und Familienleben, in dem er sich Einmal be- findet, als von der Welt getrennt, und zurückgehalten; er ist ein Produkt seines Autors: der Autor selbst aber, kann ihr nicht ausweichen; und muß in einem Roman sie immer als große, größte Bedingung -- derjenigen, die er schildert -- groß und voller Bewegung darlegen; als den Stoff, und Raum, in welchem seine Gebilde nun Einmal zu leben haben: und nur um so hervortretender, pikanter werden seine Bilder, wenn etwa Ein Wesen geschildert ist, oder mehrere, die von dieser Welt keine Notiz nehmen können, oder noch nicht ge- nug genommen haben. Die Exempel dieses großen nöthigen Verfahrens findet man auch jedesmal bei den Großen. Bei Schakespeare, Cervantes, Goethe; bei Moliere, Lafontaine -- lachen Sie nicht! -- ihre Staffage ist immer die ganze Welt: freilich nur in gezählten, und zählbaren Künstlerzügen hervor-
und, wie alle vortrefflich gemachten, nicht nur einen Einzel- nen darſtellend, ſondern mit ihm auch das Allgemeine ſeiner Klaſſe bezeichnend: denn in welchem Einzelnen müßte ein Kunſtblick die nicht finden; und ein Griff der Kunſt die nicht faſſen? Mad. de M. iſt vortrefflich; man ſieht ſie: ich kenne ſie: den jungen Mann, kenne ich wirklich. Der Mann, der Graf; ſie leben. Und ſomit haben wir einen bedeutenden Roman — unſer Leben recht geſehn, iſt immer der beſte, und gewiß reichſte — faſt verſteckt unter neuem, leichten, angeneh- men Vortrag.
Und dennoch wünſche ich zu dieſem Roman noch etwas hinzu: nämlich bewegteren, reicheren Welthintergrund. Der junge Mann ſelbſt kann wohl geſchildert werden, durch Ka- rakteranlagen, und Familienleben, in dem er ſich Einmal be- findet, als von der Welt getrennt, und zurückgehalten; er iſt ein Produkt ſeines Autors: der Autor ſelbſt aber, kann ihr nicht ausweichen; und muß in einem Roman ſie immer als große, größte Bedingung — derjenigen, die er ſchildert — groß und voller Bewegung darlegen; als den Stoff, und Raum, in welchem ſeine Gebilde nun Einmal zu leben haben: und nur um ſo hervortretender, pikanter werden ſeine Bilder, wenn etwa Ein Weſen geſchildert iſt, oder mehrere, die von dieſer Welt keine Notiz nehmen können, oder noch nicht ge- nug genommen haben. Die Exempel dieſes großen nöthigen Verfahrens findet man auch jedesmal bei den Großen. Bei Schakeſpeare, Cervantes, Goethe; bei Moliere, Lafontaine — lachen Sie nicht! — ihre Staffage iſt immer die ganze Welt: freilich nur in gezählten, und zählbaren Künſtlerzügen hervor-
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und, wie alle vortrefflich gemachten, nicht nur einen Einzel-
nen darſtellend, ſondern mit ihm auch das Allgemeine ſeiner
Klaſſe bezeichnend: denn in welchem Einzelnen müßte ein
Kunſtblick die nicht finden; und ein Griff der Kunſt die nicht
faſſen? Mad. de M. iſt vortrefflich; man ſieht ſie: ich kenne
ſie: den jungen Mann, kenne ich wirklich. Der Mann, der
Graf; ſie leben. Und ſomit haben wir einen bedeutenden
Roman — unſer Leben recht geſehn, iſt immer der beſte, und
gewiß reichſte — faſt verſteckt unter neuem, leichten, angeneh-
men Vortrag.
Und dennoch wünſche ich zu dieſem Roman noch etwas
hinzu: nämlich bewegteren, reicheren Welthintergrund. Der
junge Mann ſelbſt kann wohl geſchildert werden, durch Ka-
rakteranlagen, und Familienleben, in dem er ſich Einmal be-
findet, als von der Welt getrennt, und zurückgehalten; er iſt
ein Produkt ſeines Autors: der Autor ſelbſt aber, kann ihr
nicht ausweichen; und muß in einem Roman ſie immer als
große, größte Bedingung — derjenigen, die er ſchildert —
groß und voller Bewegung darlegen; als den Stoff, und
Raum, in welchem ſeine Gebilde nun Einmal zu leben haben:
und nur um ſo hervortretender, pikanter werden ſeine Bilder,
wenn etwa Ein Weſen geſchildert iſt, oder mehrere, die von
dieſer Welt keine Notiz nehmen können, oder noch nicht ge-
nug genommen haben. Die Exempel dieſes großen nöthigen
Verfahrens findet man auch jedesmal bei den Großen. Bei
Schakeſpeare, Cervantes, Goethe; bei Moliere, Lafontaine —
lachen Sie nicht! — ihre Staffage iſt immer die ganze Welt:
freilich nur in gezählten, und zählbaren Künſtlerzügen hervor-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/422>, abgerufen am 22.12.2024.
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